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Tata, Tatar und Tartarus

(aus "Der Segatanz unter dem Flammenbaum")

 

Von den vergleichsweise wenigen Spuren, die das britische Empire auf Mauritius hinterlassen hat, zählt der Linksverkehr zu den augenfälligsten. Die einschüchternde Wirkung, die er auf den kontinentalen Durchschnittstouristen ausübt, hat wohl schon manches Leben gerettet: Der unbedarfte Fremde verzichtet zumeist darauf, gleich nach der Ankunft ein Auto zu mieten, und zieht es vor, die Lage zu peilen, sich einzugewöhnen, ehe er sich selbst hinters Steuer klemmt. Er wird binnen weniger Stunden erkennen, dass die Umkehrung der ihm vertrauten Vorfahrtsregeln das mit Abstand geringste aller hiesigen Verkehrsprobleme ist. Wer mit offenen Augen durch die mauritischen Straßen wandelt (und alles andere wäre Selbstmord), der wird sich auch für den Rest seines Urlaubs darauf beschränken, das Taxi oder den Bus zu benutzen. Über kurz oder lang wird der Bus als Sieger hervorgehen – schon allein der Reisekasse wegen.

Die öffentlichen Busse sind die tollwütigen Nashörner im mauritischen Verkehrsdschungel, und es ist ohne Frage sicherer, mit ihnen zu fahren als gegen sie. Man hört sie zumeist, bevor man sie riechen kann, und man riecht sie fast immer, bevor man sie sieht – die segensreiche Erfindung des Katalysators ist bislang an der Insel vorüber gegangen. Dann aber schaukelt in rasendem Tempo gleich eine ganze Armada heran, klappriges, grölendes Blech, und während sich der erste aus der Kolonne quietschend an der Haltestelle einbremst, um die wartenden Fahrgäste aufzunehmen, scheren die anderen aus, wuchten ihre Tonnen auf die Gegenfahrbahn und donnern vorbei – ohne Rücksicht auf Verluste, denn was zählt, ist der Gewinn.

Es gibt eine Unzahl verschiedener Busunternehmen auf Mauritius, die einander einen täglichen, beinharten Konkurrenzkampf liefern, ohne ihre Routen oder Fahrzeiten auch nur ansatzweise aufeinander abzustimmen (einzig die Preise sind normiert; sie sind – gemessen an den europäischen – ziemlich moderat). Dieser unkoordinierte Kampf um jeden Fahrgast spiegelt den Aufschwung wider, den die heutige, wirtschaftsliberale Regierung dem ganzen Land beschert. Die Mauritier dagegen murmeln etwas von „Korruption“ und „mafiaähnlichen Zuständen“, aber sie tun es so leise, dass man sie nur selten durch ihre vorgehaltenen Hände verstehen kann. Immerhin: Einer der Gründe für die äußerst niedrige mauritische Arbeitslosenrate scheint die Vollbeschäftigung in den Bussen dieser zumeist indischen, seltener muslimischen Unternehmen zu sein: Da ist zunächst der Fahrer, ohne den ja auch die westlichen Verkehrsmittel noch nicht auskommen können. Er thront (natürlich auf der rechten Seite) in einem mächtigen Glaskobel, der an das vatikanische Papamobil erinnert. Seine Aufgabe ist eine rein mechanische: Er muss in den Kurven das Lenkrad drehen, und er muss aufs Gaspedal treten, so fest und so oft er kann. Als Kapitän und Navigator, Koordinator und Betreuer fungiert dagegen der Schaffner. Er dirigiert die Passagiere, bugsiert sie hinaus und winkt sie herein, er hantelt sich selbst bei schwerster Krängung im rollenden Rumpf des Busses hin und her, nennt den Preis, kassiert, zählt nach, gibt heraus, kurbelt und drückt an seiner eisernen, vorsintflutlichen Fahrscheinmaschine, verteilt elegant die Tickets, schlingert dann wieder nach vorne zum Bug, befiehlt dem Fahrer lautstark, hier nicht zu halten, da nicht zu bremsen, dort in jedem Fall zu überholen, klettert an einer roten Ampel aus dem Bus, um Brötchen beim nahe gelegenen Bäcker zu holen, wacht endlich wieder mit ungerührtem Blick über das Schlachtfeld Straße und seine kleine Fahrgastarmee. In Mauritius wollen die kleinen Kinder Schaffner werden, wenn sie groß sind, nicht Chauffeur.

Zu guter Letzt die Kontrolleure. Sie sind die grauen Eminenzen des öffentlichen Verkehrswesens, und wie bei allen grauen Eminenzen weiß keiner so genau, was sie eigentlich tun (die Vermutung liegt allerdings nahe, dass ihre Aufgabe nicht so sehr die Jagd auf blinde Passagiere als jene auf betrügerische Schaffner ist). Auf einer längeren Strecke – etwa den fünfzehn Kilometern zwischen Port Louis und Grand Baie – kommt es nicht selten vor, dass nacheinander bis zu vier Kontrolleure den Wagen entern und ihre kleinen Löcher in die Fahrscheine stanzen. Wenn der Kontrolleur fertig gestanzt hat, beginnt er, mit dem Schaffner zu verhandeln. Es wird diskutiert, kalkuliert und geschätzt, umfangreiche Listen werden ausgetauscht, geprüft und neu berechnet, schließlich unterschrieben. Das alles passiert natürlich, während der Bus wie ein wild gewordenes Rhinozeros von Schlagloch zu Schlagloch hüpft ...

Überhaupt die Busse. Als Hauptdarsteller in diesem dröhnenden Straßentheater machen sie – zumindest in optischer Hinsicht – einen mehr als würdigen Eindruck. Manchmal heißen sie Leyland oder Bedford, die meisten aber tragen den seltsam vertrauten Namen Tata. Ein Anklang an das Tatü-Tata der Feuerwehr, die sich mit ihren gleichsam akustischen Ellenbogen die Vorfahrt erkämpft? Ein linguistischer Hinweis darauf, dass der Tata der Vater aller mauritischen Busse ist? Oder gar ein despektierlicher Wink mit dem kreolischen Ausdruck Tata, der vor allem Kindern gegenüber verwendet wird und der schlicht und ergreifend „Scheiße“ bedeutet? Nein. Tata ist ganz einfach der Name des größten indischen Lastwagenherstellers.

Der mauritische Tata wirkt auf den ersten Blick wie ein Autobus aus alten Kinderbüchern: Zwar ist er nicht immer knallrot, aber die industrielle Stromlinienflut, die vor rund fünfzig Jahren über alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs hereinbrach, hat auch ihn nicht verschont. Entschärft ist seine kantige Schuhschachtelform, als hätten lange Fahrten auf  unwegsamen Urwaldpfaden sie geglättet und abgeschliffen; so hüllt er sich in die Aura des Haudegens, des alterprobten Abenteurers. Wo kleinere und größere Karambolagen die Karosserie noch unversehrt gelassen haben, da finden sich Reste einstmals glänzender Chromverzierungen und legen Zeugnis ab von einer Zeit, in der die Funktionalität der Verspieltheit, die Ökonomie der Ästhetik noch die Ehre erwiesen.

Wunderbar verspielt wirkt auch der kleine Metallkasten, der in allen Bussen innen über der Windschutzscheibe angebracht ist. In ihm steckt eine liebevoll beschriftete Stoffrolle, die vom Schaffner mit Hilfe einer Handkurbel weitergedreht werden kann. Durch ein ins Blech geschnittenes Fenster wird auf diese Art die angepeilte Endstation avisiert.

Hat man die Einfahrt des Busses in die Station überlebt, was mit einer eingesprungenen Hechtrolle rückwärts gut möglich ist, muss man zunächst warten, bis die bereits beförderten Fahrgäste ausgestiegen sind. Erst auf ein flüchtiges Zeichen des Schaffners hin, das mit einem lässig gebrummten „Allez!“ bekräftigt wird, darf man sich der engen, steilen Treppe nähern, die ins Innere führt. In der Regel wartet der Chauffeur geduldig mit der Weiterfahrt, bis man die Stiegen erklommen und einen Sitzplatz gefunden hat: Würde er den Bus schon in Bewegung setzen, bevor seine menschliche Fracht verstaut und gesichert ist, wären Brüche und Quetschungen unvermeidlich.

Ich sitze links neben Julia auf einem Gangplatz und nestle das vorher schon abgezählte Fahrgeld aus der Hosentasche, während der Schaffner billiardkugelartig auf mich zusteuert. Krampfhaft versuche ich, mir das vor Antritt der Fahrt gelernte Wort in Erinnerung zu rufen, die Station nämlich, an der wir aussteigen wollen; gerade noch rechtzeitig fällt es mir ein und ich brülle es so gelassen, so einheimisch es nur irgend möglich ist, dem Schaffner zu. Er, der seinen Körper indessen kunstvoll zwischen den Sitzreihen verkeilt hat, um den stetigen Schlaglochlevitationen entgegenzuwirken, legt verständnislos die Stirn in Falten. Seine Antwort verpufft im Dröhnen der Maschine; ich kann ihn ebenso wenig verstehen wie er mich. Ich strecke ihm also die halb geöffnete Hand mit den Münzen entgegen, während sich nun, wie auf ein Zeichen, die Augen der umsitzenden Reisenden auf mich richten. Man darf die Hand nicht öffnen. Kein Insulaner öffnet im fahrenden Bus die Hand. Ich verliere an der nächsten Bodenwelle zwei Münzen, die unwiederbringlich in den Tiefen des Tata verschwinden, ich grabe in der Hose nach Ersatz, kriege einen Schein zu fassen, halte ihn dem ausdruckslos wartenden Schaffner hin, um die peinliche Prozedur zu einem raschen Ende zu bringen. Minuten später habe ich den Hosensack mit Scheidemünzen prall gefüllt, und ich versucht zu entspannen, während ich mit einer Faust den druckfrischen Fahrschein umklammere, mit der anderen das schweißgetränkte Taschentuch.

Im Gegensatz zu den Einheimischen, die sich nun wieder in ihre Sitze räkeln, bald vor sich hin dösen oder einschlafen, fällt dem Fremden jedoch das Entspannen in mauritischen Bussen schwer. Und das liegt nicht alleine an den Stoßdämpfern, die noch aus Kolonialzeiten stammen dürften. Das ständige, unvermeidliche Mitfiebern mit dem Fahrer, das auf eine hilflose Geste reduzierte Lenken, Bremsen, Hupen und Beten lässt den touristischen Fahrgast bald vergessen, dass ihm sein schalensitzverwöhntes Hinterteil in rüdester Art zum Tatar geritten wird. Vor allem aber – und das ist wohl die bedeutsamste Aufgabe des ortsfremdem Busreisenden – muss er die Gegend beobachten, die Strecke antizipieren, um die von ihm angestrebte Station schon aus der Ferne zu erahnen. Neben jeder der Sitzreihen sind nämlich Seilzüge angebracht, an denen der Aussteigewillige zu ziehen hat. Tut er es, ertönt ein lautes Schrillen oder Quäken, das den Chauffeur daran erinnern soll, beizeiten nach der offensichtlich gut versteckten Bremse zu suchen. Jeder, der den Bus verlassen will, zieht an diesem Halteseil, obwohl der Bus ja doch nur einmal stehen bleiben kann. Es ist ein Ritual, und Rituale sind – wie wir noch sehen werden – das Salz in der mauritischen Suppe.

Der Bremsvorgang des Busses dient allerdings nicht nur der Entschleunigung. Er hat einen zweiten, mindestens ebenso wichtigen Zweck: Der geschickte Chauffeur kann alleine mit Hilfe von Bremse und Gaspedal die vordere Klapptüre öffnen und schließen, deren Hydraulik längst den Weg alles Irdischen gegangen ist. Es funktioniert ganz einfach: Werden die im Bus befindlichen Personen und Gegenstände durch ein plötzliches Haltemanöver nach vorne geschleudert, klappt quietschend die Tür auf. Wird man dagegen beim Verlassen der Station durch raketenartige Beschleunigung in seinen Sitz gepresst, während einem das Mittagessen des Vordermanns ins Gesicht klatscht, dann schließt sich auch die Falttür wie von Geisterhand. Diese Ausnutzung der physikalischen Trägheitsgesetze fordert dem Fahrer, der Maschine und den Reisenden das Äußerste ab – dennoch entbehrt sie nicht einer gewissen Grandezza.

Wer nun glaubt, der Hölle entronnen zu sein, kaum dass er – eingehüllt in die dicken Rauchschwaden des sich entfernenden Busses – wieder auf der Straße steht, der irrt gewaltig. Geschützt vom wuchtigen Blechwanst des Tata hat er höchstens einen Vorgeschmack auf den mauritischen Tartarus erlebt, der sich Individualverkehr nennt.

Hinge nicht ständig ihr schwerer Bleigeruch über den Straßen, man müsste annehmen, dass mauritische Automobile mit kleinen, roten Piments betrieben werden, wie man die Chilischoten hier zu nennen pflegt. Obwohl er – der Natur der Insel entsprechend – in keine Richtung sehr weit fahren kann, bevor er ins Meer fällt, fährt der motorisierte Insulaner so oft und so rasch wie möglich. Wenn es sich auch selten ohne Schrammen und Beulen präsentiert, dient ihm das Auto doch als Statussymbol und Identifikationsobjekt. So hat er es aus der westlichen Werbung gelernt. Selbst kürzeste Strecken legt er mit dem Wagen zurück – nur wer keinen besitzt, muss sich wohl oder übel auf Moped und Fahrrad beschränken (Zweiräder werden hier übrigens fast immer ohne Licht betrieben, vielleicht wegen der besseren Kraftnutzung). Gefahren wird grundsätzlich in der Straßenmitte; bei Gegenverkehr bleiben die Kontrahenten solange auf Kollisionskurs, bis der Nervenschwächere das Steuer nach links verreißt. Links befindet sich aber gerade ein Mopedfahrer, der gerade einen Radfahrer überholt, der gerade an einem Fußgänger vorbeifährt, der gerade ein Auto umrundet, dessen Fahrer angehalten hat, um einen flüchtigen Bekannten zu begrüßen. Die Zahl der auf den meist sehr schmalen Straßen stehenden Autos ist Legion, und zwar nicht nur wegen der Unmenge zu begrüßender Bekannter, sondern auch, weil es (außer in den Städten Port Louis, Rose Hill, Quatre Bornes und Curepipe) so gut wie keine Haltezonen oder gar Parkplätze gibt.

Als einfacher Fußgänger hat man auf den mauritischen Straßen die geringsten Überlebenschancen. Das liegt zum Teil am enormen Verkehrsaufkommen des Landes und an der rüden Fahrweise seiner Bewohner, vor allem aber an der vermeintlichen Absenz jedweder Verkehrsplanung: Auch Trottoirs existieren nur in den größeren Städten; sie sind zumeist so überfüllt mit Straßenhändlern und Passanten, dass man letztlich doch auf die Fahrbahn ausweichen muss, um voranzukommen. In kleineren Ortschaften gibt es gar keine Gehsteige. Stattdessen säumen hier tiefe Kanäle die ausgefransten Asphaltränder der Straße und lauern geduldig auf Knöchel und Vorderachsen.

Auch von der Erfindung des Zebrastreifens scheint man in Mauritius – trotz der Nähe zum afrikanischen Kontinent – noch selten gehört zu haben. Man nehme zum Beispiel Grande Rivière, einen der meistfrequentierten Verkehrsknotenpunkte an der Einfahrt nach Port Louis: Um zwischen den großen westlichen und südlichen Buslinien zu wechseln, müssen hier täglich mehrere tausend Passanten die Hauptstraße überqueren, die sich just an dieser Stelle als stolzer vierspuriger Highway präsentiert. Den Fußgängerübergang, der in Grande Rivière sogar vorhanden ist, benutzt allerdings niemand: Er wurde circa zweihundert Meter stadteinwärts angelegt, wahrscheinlich um den Verkehr nicht zu behindern.

Oder man versuche, vom brodelnden südlichen Busbahnhof auf direktem Weg in den Hafen der Hauptstadt zu kommen, zur so genannten Caudan Waterfront, einem erst vor wenigen Jahren aus dem Boden gestampften Touristenviertel mit Hotels, Pubs und Boutiquen. Sobald man dem Bus entstiegen ist, liegt die Waterfront zum Greifen nahe jenseits der Hauptstraße – und damit jenseits eines kilometerlangen Gitterzauns, den man fügsam bis zum Stadtzentrum entlanglaufen muss, bevor man die rettende Unterführung zum Hafen findet. Weniger fügsame Mauritier pflegen einfach über die Barriere zu klettern, um sich den Umweg zu ersparen.

Zweimal täglich ist es dem Fußgänger allerdings möglich, vollkommen ungefährdet von einer Seite der Hauptstraße auf die andere zu gelangen – zumindest in und um Port Louis: Mit der Regelmäßigkeit der Gezeiten bilden sich hier nämlich an jedem Morgen und Nachmittag kilometerlange Staus, die sich erst nach Stunden wieder aufzulösen pflegen. Kein Wunder, sind doch alle relevanten Firmen, Behörden und damit Arbeitsplätze der Insel in Port Louis zentralisiert.

Man gewöhnt sich an vieles. Und so weicht der erste Schrecken des touristischen Freiwilds bald der Verblüffung  des westlichen Beobachters. Sobald unsere Blicke ein wenig tiefer dringen, sobald wir sie erst von den Autos zu deren Fahrern, von den verbeulten Rüstungen dieser mauritischen Straßenkämpfer zu ihren Gesichtern wandern lassen, verstehen wir nämlich gar nichts mehr: Kein böses Wort, keine wütende Geste begleitet all das Drängen und Schneiden, Stoßen und Hupen der täglichen Maschinenschlacht, kein Drohen und Schimpfen und Fluchen und Brüllen, wie man es in den von sich selbst so bezeichneten zivilisierten Kulturen schon als Kind auf dem Rücksitz lernt. Nein, mit stoischer Gelassenheit lenken die Mauritier ihre Wägen hinter- und neben-, an- und gegeneinander, ohne gesteigerte Rücksicht zwar, ohne freundliches Platzmachen oder gar höfliche Gesten der Dankbarkeit, aber auch ohne jeden Hass. In dieser Hinsicht – aber auch nur in dieser – ist Mauritius ein durch und durch buddhistisches Land.

 

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