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Schäfchen zählen

(aus "Absurdes Glück")

 

Ein Schaf liebte ein anderes Schaf.

Ein Schaf hieß Leopold und das andere Gundi.

Leopold war Gundi eines Abends begegnet, im Kopf eines neunjährigen Knaben, der nicht einschlafen konnte und deshalb Schäfchen zählte. Leopold und Gundi waren unmittelbar hintereinander gezählt worden.

Leopold hatte sich gleich in Gundi verliebt. Er war nach ihr in der Reihe gestanden und hatte nicht viel mehr gesehen als ihr weiches, wolliges Hinterteil. Aber: „Was für ein Hinterteil“, hatte Leopold gedacht, „was für ein Schafsweib! Und wie wundervoll die Lämmer, die sie mir gebären wird!“ Leopold war ziemlich selbstbewußt.

So waren die beiden am inneren Auge des Knaben vorbeigezogen, und ihre Zeit war kurz, zu kurz gewesen. Denn kaum, daß sie die leise gemurmelten Nummern 13 (Gundi) und 14 (Leopold) erhalten hatten, verloren sie sich im Nebel der kindlichen Träume. Zuerst wurde aus Gundi Nichts, dann wurde aus Leopold Nichts.

So war das.

Am folgenden Abend sah Leopold Gundi wieder. Ein Stich des Erkennens, ein kleiner Augenblick Verliebtheit für Leopolds pochendes Schafbockherz, dann die schläfrige Kinderstimme: „...dreizehn....vierzehn...“, und Gundi und Leopold hörten auf, zu existieren.

„He du! Du da vorne!“ blökte Leopold am dritten Abend. „He, du! Dreh dich doch mal um!“ am vierten. „He, du! Wie heißt du denn?“ am fünften. „He, du! Ich heiße Leopold!“ am sechsten.

Am siebten Abend blieb Leopold still.

Am achten wandte Gundi ihren Kopf nach hinten und blickte ruhig in Leopolds Augen: „Sag nie wieder `He du` zu mir!“ Gundi wußte, was sich gehört. Sie war ein stolzes Schaf.

So kamen die beiden ins Gespräch. Und siehe da, nach wenigen Wochen hatte auch Gundi Leopold ins Herz geschlossen, diesen Rüpel, der sich in ihren Hintern verliebt hatte.

Es ist nicht leicht, auf diese Art zu lieben. Tag für Tag nicht mehr als zwei Sekunden Zeit für all die sanften Worte, die tiefen Blicke, die versonnenen Schnuppereien?

Wie soll man da bloß Lämmchen machen?

Anfangs scherzten die beiden noch. „Hast du Lust auf Kino?“ hieß es da oder „Komm, wir stellen uns ganz hinten an!“ Aber nach einem halben Jahr versiegte ihr Humor und wich einer tiefen und stummen Hoffnungslosigkeit. Und eines Abends flüsterte Gundi heiser: „Vergiß mich, es hat ja doch keinen Sinn...“

 

 

Leopold zitterte vor Wut. Er haßte diese Ohnmacht, dieses ausweglose Schicksal, dieses Nicht-Sein-Können  und Doch-Sein-Müssen, er haßte die widerwärtige, schläfrige Stimme, die zwischen ihm und Gundi stand, er haßte seinen Schöpfer.

Und der Zorn brach aus ihm hervor. „He du!“ schrie Leopold, und seine Augen flackerten rot und wild, „zeig dich, du dreckiger kleiner Schäfer!“ Abend für Abend grölte und blökte Leopold, und bald stimmte Gundi mit ein: „Leben!“ schrie sie, „Wir wollen doch nur leben!“

„...dreizehn...“ murmelte schläfrig die Kinderstimme, ...vierzehn...“

Eines Abends, während er Schäfchen zählte, hatte der Knabe eine lustige Idee: Er stellte sich vor, zwei seiner Schäfchen seien ineinander verliebt. Sie trabten langsam durch das saftige Gras, trunken vor Sonne und Glück, sie legten selig ihre Köpfe aneinander und tauschten kleine Küsse. Der Knabe malte sich aus, wie die beiden älter wurden und wie viele kleine Lämmchen die Wiese bevölkerten. Es war eine Welt ohne Winter, ohne Wolf und ohne Wut. Es war ein Paradies.

Der Knabe zog die Bettdecke ein wenig höher. Und dann dachte er daran, wie die Lämmchen gemacht werden. Das war eine ziemlich angenehme Vorstellung. Und sie half besonders gut beim Einschlafen.

Der Knabe zählte nie wieder Schäfchen.

 

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