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Der Pinguinmord
(aus "Das Schweigen des Lemming")
Der
Schrei kommt um halb vier vom Osten her. Plötzlich zerreißt er die
Stille, gellt durch die Nacht und erstirbt in den Tiefen des Waldes.
Eine kurze, eine trügerische Pause tritt nun ein, ehe ein weiteres Brüllen
ertönt, tief jetzt und wütend, heiser und wild. Durch
das Buschwerk streicht ein warmer Lufthauch, in den Ästen flattert ein
nervöser Vogel auf. Und als hätte die Natur mit seinem zarten Flügelschlag
den Taktstock gehoben, als hätte sie nur ihre Kräfte gesammelt, Atem
geholt, um für ein dröhnendes Forte gerüstet zu sein, setzt gleich
darauf ihr gesamter bombastischer Klangkörper ein. Aus hundert Kehlen
kreischt und flötet, jault und krächzt es auf einmal los, aus hundert
Mäulern erschallt die markerschütternde Dschungelkakophonie, weitet
sich aus, pflanzt sich fort, während das Scharren und Stampfen
hunderter Pranken, Krallen und Hufe den Boden erzittern lässt. Der
Lemming horcht auf. Schüttelt langsam den Kopf und rasch das Gemächt.
Schließt dann die Hose und tritt hinter dem Baum hervor. Nach und nach
klingt er ab, der gespenstische Lärm, verhallt in den Alleen, bis nur
noch vereinzelt die schrillen, hysterischen Rufe der Makaken zu
vernehmen sind. „Affenpack“,
murmelt der Lemming. „Nervöses Affenpack ...“ Und während er
seinen Rundgang fortsetzt, wenden sich seine Gedanken Darwins
Evolutionslehre zu, der belegten genetischen und offensichtlichen
geistigen Verwandtschaft zwischen tierischen und menschlichen Lemuren.
Wie zur Bestätigung schimmert im Mondschein der Kaiserpavillon durch
die Bäume, der, wie der Lemming findet, ganz zu Recht im Zentrum des
ausgedehnten Zoogeländes steht: Als einziges Gehege dient er der Pflege
und Fütterung des Homo sapiens; Tag für Tag finden sich riesige Horden
hungriger Primaten hier ein, um Würstel und Schnitzel zu vertilgen, während
sich ihre Jungen an Pommes frites und Palatschinken gütlich tun. Nicht
anders als die Paviane und Schimpansen schlingen sie alles in sich
hinein, was ihnen vom Wärter, dem Kellner nämlich, aufgetafelt wird;
nicht anders als der Radau der Makaken klingen ihre fordernden Lockrufe:
Zahlen! Ober! Ober! Zahlen! Der
Lemming malt sich eine Herde unbekleideter Wiener aus, die sich mit
einer Rotte ebenso nackter Japaner um einen Hamburger balgt. Hausmeister
und Direktoren erklimmen schnatternd und johlend die Brüstungen des
Pavillons, hopsen ungestüm und Zähne fletschend auf dem Dach herum,
klatschen sich auf ihre kugelrunden Bäuche und wackeln mit den
leuchtend weißen Ärschen. Der Lemming muss schmunzeln – ein
Schmunzeln, für niemanden bestimmt als für ihn selbst. Es
kann schon passieren, dass man ein wenig wunderlich wird, wenn man als
einsamer Wächter seine Runden dreht. Vor allem in der Nacht. Besonders
in Schönbrunn. Und ganz besonders im Schönbrunner Tiergarten. Man hört
Myriaden von Stimmen und kann sie nicht verstehen, man fühlt Legionen
von Blicken und kann sie nicht erwidern. Man ist nicht allein und ist es
doch. Und was man sich trotzdem am wenigsten wünscht, ist die Begegnung
mit einem Geschöpf der eigenen Art, die Begegnung mit einem Menschen
... „Hallo
... Ist da jemand?“ Einen
Moment lang scheint es dem Lemming, als hätte er ein Licht gesehen, ein
Funkeln in der Nähe des Polariums. Er verlangsamt seine Schritte. Zieht
eine Taschenlampe hervor, schaltet sie ein und richtet den Strahl auf
den Boden. Nie in die Gehege
leuchten!, so hat er es schon vor zwei Jahren gelernt, als er
eingeschult wurde. Die Tiere haben ein Recht auf ungestörte Nachtruhe.
Wenigstens die Tiere ... „Hallo?“ Der
Lemming bleibt stehen. Es
zählt beileibe nicht zu seinen Pflichten, unerwünschte Besucher
einzufangen. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, mögliche
Eindringlinge abzuschrecken und – gegebenenfalls – zu vertreiben.
Meistens sind es ja harmlose Zeitgenossen, die über Zäune und Mauern
ins Innere des Geländes klettern, Jugendliche etwa, die ihren Mut
beweisen wollen, oder Obdachlose auf der Suche nach einer freien
Parkbank. Es gibt ja schließlich kaum etwas zu stehlen im Zoo: Giraffen
und Gnus zählen nicht gerade zur gängigen Beute städtischer Räuber
und Diebe, Kamele und Zebras stehen selten auf der Wunschliste von
Hehlern und Schwarzhändlern. Der
Lemming starrt in die Dunkelheit. Nein, es war wohl nichts. Eine Täuschung
der Sinne vielleicht. Allenfalls ein Reflex des Mondlichts auf dem
Glasdach des neu erbauten Regenwaldhauses. Er dreht die Lampe aus und
setzt sich wieder in Bewegung. Zu seiner Rechten ragen die mächtigen
Silhouetten der Elefanten auf; jetzt, im Spätsommer, dürfen auch sie
ihre Nächte im Freien verbringen. Ein Schatten löst sich aus dem Pulk
der dösenden Riesen und trottet lautlos auf den Lemming zu. Ein
Schatten allerdings, der deutlich kleiner ist als jene seiner
Artgenossen. Abu hat erst vor knapp zwei Jahren das Licht der Welt
erblickt und seither die goldenen Herzen der Wiener im Sturm erobert.
Auch das des Lemming, nebenbei. Jetzt lehnt sich der kleine Elefant an
die dicken Baumstämme, die das Gehege umgeben, und reibt sich daran. „Hallo,
Abu ...“, sagt der Lemming leise. „Alles in Ordnung?“ Abu
antwortet nicht. Stattdessen streckt er dem Lemming den Rüssel
entgegen. „Tut
mir Leid ... Heut hab ich nichts für dich ...“ Das
waren noch Zeiten, als die Wiener den Zoo gestürmt haben, um verfaulte
Äpfel und Bananen, verschimmeltes Brot und vertrocknete Semmeln an die
Tiere zu verfüttern. Kinderzeiten - der Lemming erinnert sich noch gut
daran. Später konnte man beim Eingang kleine Säckchen mit Getreide und
Trockenfrüchten erwerben, die dann wahllos in die Käfige der Panther,
Schimpansen oder Nilpferde geworfen wurden ... Überhaupt die Käfige:
Vor zwanzig Jahren noch waren es winzige, schmutzige Zwinger, kahle,
stinkende Schaukästen, in denen das Elend regierte. Dem alten Löwen
beispielsweise stand ein Weg von knapp fünf Metern zur Verfügung, um
seinen Bewegungsdrang zu stillen. Er hatte seine Schritte auswendig
gelernt und setzte sie Tag für Tag, Woche für Woche in derselben Weise
an dieselben Stellen. Er tat es ohne Unterlass, pendelte von früh bis
spät zwischen seinen Kerkermauern hin und her. Dieser stetige,
rhythmische Trott des Königs der Tiere hat den kleinen Lemming manchmal
bis in den Schlaf verfolgt. Viel
hat sich seither geändert im ältesten Zoo der Welt. Seit er im Jahr
1991 privatisiert wurde, weht der Wind der New Economy durch seine
Zeilen und Promenaden. Großzügig und modern sind die stahl- und
glasbewehrten Freigehege, die man zwischen den kaisergelben Volieren der
barocken Menagerie errichtet hat, großzügig auch die Preise, die man für
sprechende Stofftiere, Mogli-Burger und Spazierfahrten mit dem lustigen
Dumbo-Express berappen muss. Aber bitte: Wo sonst wäre Globalisierung
wohl besser am Platz als im Zoo? Bei allen Vorbehalten, die man gegen
den Profitwahn der bilanzverliebten Hominiden haben kann: Hier
profitieren auch die Tiere davon, das muss sogar der Lemming zugeben.
Traurig nur, dass sich der Zweck von Amüsierbetrieben dieser Art im
Laufe der Zeit so gewandelt hat. Dienten die Tiergärten früher der
puren menschlichen Sensationsgier, so haben sie sich mittlerweile zum
globalen biologischen Erfordernis entwickelt: Sie sind die letzten
Refugien beinahe ausgerotteter Arten, die letzten Tröpfchen Wildnis,
die sich eine moribunde Welt gerade noch hervorzuquälen vermag. Der größte
Feind der Natur bietet ihren kümmerlichen Resten heute Schutz – und
verdient abermals daran: Kommet
und zahlet, sehet und staunet! Wir sind noch immer nicht kaputt! Der
Lemming wendet sich dem Affenhaus zu, in das nun wieder Ruhe eingekehrt
ist. Nichts regt sich hinter den Gitterstäben der Gibbons und Makis,
nur im gewaltigen Glaskobel der Orang-Utans ist eine leise Bewegung
wahrzunehmen: Nonja, die Künstlerin, die Malerin mit den traurigen
Augen. Am frühen Morgen wird wieder der Pfleger mit Buntstiften und
Lebensmittelfarben in ihr Gehege treten, und die Orang-Utan-Dame wird
sich an die Arbeit machen. Tief versunken und hoch konzentriert wird sie
ihre Skizzen und Gemälde auf Papier und Leinwand werfen, ungegenständliche
Bilder, die wenig später zu Liebhaberpreisen den Besitzer wechseln
werden. Über den Chefsesseln nicht weniger Bankiers, Magnaten und
Politiker hängen heute schon gerahmte Nonjas, echte Nonjas, wenn auch
unsignierte ... Der
Lemming tritt näher an die Glaswand, späht hindurch, die Hände links
und rechts an den Verschlag gestützt. Und als hätte Nonja schon darauf
gewartet, taucht jetzt aus dem Dunkel ihre dichte Mähne auf. Kurz lässt
sich ihr zerfurchtes Gesicht erahnen, kurz legen sich ihre langen,
ledernen Finger von innen an jene des Lemming. Ein leises Vorbeiwischen
nur, eine Geste, ein Gruß – schon ist die Affendame wieder in den
Tiefen ihrer Urwaldmaisonette verschwunden. Der
Lemming mag seine Nachtdienste. Er mag seine einsamen Runden durch das
menschenleere Tierreich. Wahrscheinlich steckt da ein Rest von
Kindlichkeit in ihm, ein pubertärer Hang zum Dschungelabenteuer.
Vielleicht ist es aber auch die geradezu biblische Dimension seiner
Arbeit, die ihn immer wieder aufs Neue wohlig erschauern lässt: Sobald
die Pforten des Zoos geschlossen sind und die Sonne hinter Hietzing
versinkt, verwandelt sich Schönbrunn in eine Arche, die er – und nur
er alleine – mit unerschrockener Entschlossenheit durch finstere
Stunden steuert. Ja, er mag es, sich wie ein Verschnitt aus David
Livingstone und Noah zu fühlen, auch wenn er das üblicherweise nicht
zugibt. Zählt es doch zu den Grundgesetzen der Lohnarbeit, dass sie
keine Freude machen darf. Im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben, das hat
schon der Allmächtige gesagt. Soll man sich für sein Vergnügen auch
noch bezahlen lassen? Ein
Schweißtropfen bahnt sich den Weg in den Kragen des Lemming, während
er den Aufstieg zum Polarium in Angriff nimmt. Warm ist es und drückend
feucht: beileibe keine Nacht für weite Wanderungen. Trotzdem steht der
kleine Elektrowagen des Wachdienstes ungenutzt hinten im Wirtschaftshof.
Der Lemming verwendet ihn nie. „Spazieren geh ich zu Fuß“, pflegt
er zu brummen, wenn ihn die Kollegen von der Tagschicht damit hänseln.
Was er unerwähnt lässt, ist eine peinliche Begegnung vor zwei Jahren,
damals, als er den Wagen zum ersten und einzigen Mal in Betrieb genommen
hat. Eine Begegnung neben dem Gatter des Streichelzoos. Ein Rendezvous
mit einem Baum ... Er
passiert nun das mächtige Robbenbecken, stapft verträumt und bedächtig
den Hang hinan. Und da, inmitten schweifender Gedanken, sticht ihm das
Irreguläre ins Auge, das Alarmierende: ein schmaler Lichtstreif, der
nur wenige Meter vor seinen Füßen auf den Asphalt fällt. Der Lemming
stutzt. Wendet sich stante pede nach links, zur breiten Front des
Pinguinhauses hin. Die Tür des Hauses steht weit offen. Ihr Flügel,
zersplittert, hängt schief in den Angeln. Heraus strömt das frostige
Licht der Antarktis und durchschneidet die schwüle Wiener Nacht. Man
hat so seine Vorstellung von einem Pinguin. Besonders in Wien. Pinguine,
so lernt man es hier schon als Kind, leben in großen Gruppen hinter
dickem Glas. Sie sehen lustig aus, wie winzige Oberkellner oder
Dirigenten, aber sie sind nicht lustig. Sie bieten dem Betrachter selten
mehr als ihren nackten Anblick. Kein Schnäbeln und Schnattern, kein Hüpfen
und Flattern amüsiert den zahlenden Besucher, auch kein Sprung in das
schillernde Wasserbecken, das sich hinter der Scheibe aus Panzerglas
durch das Gehege zieht. Völlig unbewegt stehen die kleinen Kellner
Seite an Seite, stehen in fahlem Licht auf weiß getünchtem Waschbeton
und starren an die Wand. Ein gnädiger Künstler hat dort eine Linie
gezogen, einen waagerechten Strich, der die Mauer in zwei Sphären
teilt: in eine obere blaue und eine untere weiße. Die Pinguine starren
auf den Horizont aus Dispersion, der ihrer kleinen, kalten Welt die
Grenzen setzt. Man
hat so seine Vorstellung von einem Pinguin. Doch das Bild, das sich dem
Lemming bietet, als er mit gebotener Vorsicht den Raum betritt, läuft
jeder Erwartung zuwider. Unlogisch ist es, widersinnig, ja polar zu
jeglicher Vernunft, und das im wahrsten Sinn des Wortes. Reglos
wie immer stehen die Kellnervögel im Halbkreis und fixieren den trügerischen
Horizont. Zwölf Tiere sind es, die dem Lemming ihre schwarzen Rücken
zugewandt haben. Einer aber, der dreizehnte, blickt exakt in die
Gegenrichtung. Blickt völlig ungerührt zur Glaswand hin. Er starrt dem
Lemming ins Gesicht. Und
er fliegt. Seine
Füßchen schweben einen halben Meter über dem Boden, die flossenförmigen
Flügel hat er schräg von sich gestreckt. Wie ein Guru, ein Fakir, ein
levitierter Heiliger hängt er in der Luft: Er fliegt zwar, aber er
flattert nicht. Nicht mehr, jedenfalls. Um seinen kurzen Hals liegt eng ein dünner, roter Strick und spannt sich straff nach oben hin, zu einem Fensterriegel in der Decke des Geheges. Durch die Luke aber fällt ein leises Funkeln: Es ist das ferne Leuchtfeuer des Polarsterns – ein stummer Wegweiser in den Pinguinhimmel.
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