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Der Naschmarktmord

(aus "Lemmings Himmelfahrt")

 

Der Lemming weiß nicht mehr, ob sein Kopf im Augenblick des Schusses zur Seite gezuckt ist. Er kann sich seiner eigenen Reflexe nicht entsinnen; sie sind rein instinktiv erfolgt und haben keine Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Umso genauer hat er alle äußeren Vorgänge wahrgenommen; die Zehntelsekunde des Mordes hat sich seinem Gedächtnis eingeprägt und zieht in Endlosschleifen daran vorbei.

Zunächst die drei Blitze; einer an der Mündung der Waffe, zwei in den Augen des Schützen. Natürlich sind es Spiegelungen der Brillengläser gewesen, aber sie haben gewirkt wie das erstaunte Aufflackern im Blick des Zauberlehrlings, dem erstmals ein magischer Trick gelingt. Dann der Knall, trocken und verhalten, als würde man eine schlechte Flasche Wein entkorken. Im selben Moment das Geschoß. Der Lemming bildet sich ein, er habe er es im Flug gesehen: Klein, zylindrisch, glitzernd ist es auf ihn zugekommen, und hätte es sprechen können, es würde wohl etwas ähnliches gesagt haben wie: Verzeihen sie, mein Herr. Ich bin ihnen gar nicht zugedacht, mein Herr. Gleichwohl sehe ich mich nicht in der Lage, meine Richtung jetzt noch zu ändern. Diese Verwechslung tut mir Leid, mein Herr, für mich selbst nicht weniger als für sie, denn schließlich haben wir beide nur dieses eine Leben ...

Ja, hätte es sprechen können. Stattdessen hat es sich seiner Wange genähert, ist, aus welchem Grund auch immer, daran vorbeigezogen und hat sein linkes Ohrläppchen nur um Millimeter verfehlt. Nicht mehr als ein flüchtiges Sirren ist zu hören gewesen, selbst den Lufthauch des Projektils hat der Lemming intensiver wahrgenommen. Gleich darauf hat er hinter sich einen kurzen, schmatzenden Ton vernommen, einen Klang wie aus der Küche, ein Geräusch, das ihn an rohe Hühnerleber oder Fischfilets erinnerte. Etwas ist ihm ins Genick gespritzt, etwas von der Wärme eines Sommerregens. Noch bevor seine Knie weggeknickt sind, ist dem Lemming schon klar gewesen, dass die Kugel ihr Ziel erreicht hat.

Hinter ihm liegt der Hagere auf dem Straßenpflaster. Eines seiner Augen steht offen, das andere ist keines mehr. Stattdessen klafft ein kleiner schwarzer Krater in seinem Gesicht, aus dem unaufhörlich die blutige Lava strömt, um ein paar Meter weiter im Kanal zu versickern. Es heißt oft, dass der Tod dem Menschen ein friedliches Aussehen verleiht, doch diese Leiche macht nicht den Eindruck seliger Entseeltheit. Sie wirkt wie das Aas und der Geier, verloren und hungrig zugleich.

Der Lemming kauert auf dem Boden und betrachtet die gestorbenen Überreste des Feindes. Er ertappt sich dabei, nicht das Maß an Genugtuung zu empfinden, das ihm eigentlich zustünde. Fast hat er ein schlechtes Gewissen für diesen Mangel an Schadenfreude: Hier tritt wieder einmal sein verkümmerter Egoismus zutage, der bisweilen an Selbstaufgabe grenzt. Mit einem resignierten Kopfschütteln wendet er sich von dem Toten ab und dessen Mörder zu.

Der Kleine steht noch immer da und hält den Arm von sich gestreckt. Erschrocken starrt er auf die Pistole in seiner Hand. Sein Mund steht halb offen, aber der Speichel hat zu rinnen aufgehört: Schrot und Schleim scheinen fürs Erste entleert zu sein.

„Und jetzt?“, fragt der Lemming leise.

Der andere rührt sich nicht. Er kann es offenbar nicht fassen, dass sein Zeigefinger den Lauf den Welt verändert hat. Nur eine winzige Bewegung, ein unmessbar kurzer Moment, in dem der Wille eine Bresche in den moralgepolsterten Panzer der Phantasie schlägt, und schon ist nichts mehr, wie es vorher war. Vorstellung und Wirklichkeit stürzen plötzlich ineinander und vereinen sich zu einem neuen Kosmos, der sich vom alten dadurch unterscheidet, dass man ihn selbst erschaffen hat. Die Macht rauscht einem durch die Ohren, man fühlt sich geborgen, der Schöpfung verbunden – man hat sie ja mitgestaltet, ist endlich selbst zum Schöpfer geworden – und sei es als Zerstörer. Es ist leicht, zu töten. Aber es ist schwierig, ein Mörder zu sein, sobald der Rausch verfliegt und die Unschuld für immer verloren ist. Die Herrschaft über die Welt ist ein Nebenjob im Vergleich mit der Herrschaft über das eigene Gewissen. Die Uhr lässt sich nicht mehr zurückdrehen, die Seele ist für alle Zeiten defloriert: Das ist es, woran die meisten Verbrecher zerbrechen. Einige wenige aber werden süchtig, erhöhen die Dosis und setzen den nächsten Schuss. Der Kater eines Killers ist ein Karnivore ...

Der Lemming weiß, dass sein Leben in diesen Sekunden den seidenen Faden nicht wert ist, an dem es hängt. Er robbt zur Seite, ertastet eine Bretterwand und zieht sich daran hoch. Mit der Vorsicht eines Seiltänzers nähert er sich dem Todesschützen.

„Gib her ... ganz ruhig, ich tu dir nichts ... komm schon, gib mir die Waffe ...“

In den Ecken und Winkeln der Marktstände werden jetzt Stimmen laut und hallen durch die dämmrigen Zeilen, Stimmen von Händlern und Arbeitern, denen der Knall nicht entgangen ist.

„Ubica! Ubica! Uhapsiti lopova!“

„Bleib da, Fredl! Gib Acht!“

„Atje ... Jo! Ndal!“

„So holts doch wer die Polizei!“

Der Kleine legt den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Langsam lässt er die Waffe in die Hand des Lemming gleiten.

„Aber ich weiß doch, was ich tu ...“, flüstert er. „Ich weiß es doch ...“

Dann läuft er los.

„Katil! Katil!

„Mein Gott ... schau, da steht er!“

Bevor er sich noch in Bewegung setzen kann, um den Mörder zu verfolgen, treten dem Lemming drei graue Gestalten in den Weg. Schmal, unrasiert, mit verlöschten Zigaretten in den Mundwinkeln.

„Schnell ... die Rettung!“

„Verdammt! Revolver!“

So plötzlich, wie sie erschienen sind, verschwinden sie wieder hinter den Buden.

Jetzt ist es am Lemming, die Flucht anzutreten. Er hetzt auf die Straße, wirft die Arme hoch, quietschende Bremsen im Ohr, zwei Lichtkegel in den Augen, ein silbriges Glitzern in der Hand, einen Schrei auf den Lippen, erkaltetes, klebriges Hirn im Genick.

Es ist viertel sieben. Die junge Frau am Steuer des Wagens, ihres Zeichens Verkäuferin in einem kleinen Naturkostladen jenseits der Donau, wird an diesem Mittwoch nicht zur Arbeit erscheinen. Sie wird das Auto wenden, mit zitternden Knien nach Hause fahren, die Tür verriegeln und sich in ihr Biosonne Bambusbett legen. Aber Joghurt und Yoga, Fengshui und Fliederkissen werden sie nicht von dem Alptraum befreien können, der da so jählings an ihrer Kühlerhaube vorbeigehuscht ist. Sie hat Ravana gesehen, den Dämonenfürsten und Todfeind des Vishnu; sie hat an jenem Morgen dem Inbild des Bösen ins Auge geblickt, aus und basta, und kein Therapeut dieser Welt wird je etwas daran ändern können.

 

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