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Der Nachbar
(aus "Lemmings Zorn")
Nach
und nach befüllt der Lemming seinen virtuellen Aktenschrank, heftet
Notiz um Notiz auf seiner mentalen Pinnwand fest. Schon schälen sich
die ersten Schemen aus dem Nebel, vage Phantasien, was womit warum und
wie zusammenhängen könnte, als die Gedanken schlagartig verfliegen,
noch ehe sie greifbar werden: Aus dem Schlafzimmer dringt ein dumpfes,
rhythmisches Klopfen und zerstört das filigrane Netz aus Überlegungen,
das der Lemming eben noch gesponnen hat. „Was
ist da los? Was macht der Kleine da?“ Gar
nichts macht der Kleine da. Im Gegenteil: Vom plötzlichen Hämmern
selbst aus dem Schlaf gerissen, fängt Benjamin lauthals zu brüllen an.
Und gleich darauf der Lemming. Er läuft in den Schlafraum und schlägt
mit der Faust an die Wand ... Ruhe.
Grimmiges Lauschen. Auch Ben hält jetzt inne, sichtlich überrascht vom
Zornesausbruch seines Vaters. Dann
aber hebt das ferne Surren eines elektrischen Motors an, gefolgt von
jenem penetranten, Zwerchfell und Lenden durchzitternden Grollen eines
Bohrers, der in das Mauerwerk dringt. „Sie
wissen, welchen Tag wir heute haben?“ „Natürlich
...“ Zwei feuchte, grüne Augen spähen skeptisch durch die
daumendicken Brillengläser. Die Brillengläser spähen skeptisch durch
den daumenbreiten Türspalt. „Sie
wissen auch, dass es ein Feiertag ist? Ein Tag der Ruhe und des
Friedens?“ Es kostet den Lemming erhebliche Mühe, die Ruhe, den
Frieden selbst zu bewahren. „Natürlich
weiß ich das. Ich weiß auch, dass der Messias gekommen ist, um uns ...
Hören Sie, Ihre Leute waren schon letzte Woche da, sehr höflich, sehr
manierlich, da kann man nichts sagen. Aber ich hab den Wachposten schon.
Und jetzt gerade hab ich wirklich keine ...“ „Wachtturm“,
stößt der Lemming hervor. „Babbm“, meint auch Ben, der – immer
noch verweint – in seinen Armen hängt. „Wachtturm,
meinetwegen.“ Der Türspalt verbreitert sich nun ein Stück, das
Misstrauen im Blick des schmächtigen Mannes wandelt sich zur Neugier:
Zeugen Jehovas, die mit Babys auf die Runde gehen, sieht man schließlich
nicht alle Tage. „Wir
sind Nachbarn“, sagt der Lemming. „Verstehen Sie?“ „Sicher.
Selbstverständlich. Wir sind alle Seine Kinder. Eine einzige große
Familie, sozusagen. Trotzdem ist es gerade sehr ungünstig: Ich stecke
mitten in der Arbeit.“ „Nein!“
Müsste er Benjamin nicht halten, der Lemming würde die Hände ringen.
„Nein, wir sind wirklich Nachbarn! Ich wohne im Nebenhaus, Wand an
Wand mit Ihnen!“ „Aha
... Ach so!“ Endlich scheint der andere zu verstehen. „Ja schön,
dass wir uns einmal kennen lernen. Also Sie sind ... drüben, auf der
anderen Seite der Feuermauer?“ „Drüben,
richtig. Nur, dass eine Feuermauer leider keine Schallmauer ist.“ Ohne
weiter auf die Bemerkung des Lemming zu achten, zieht der Bebrillte
jetzt vollends die Tür auf und gibt den Blick auf seinen blauen,
staubbedeckten Overall frei. „Und der Kleine? Haben wir etwa
geweint?“ „Ja“,
erwidert der Lemming. „Wir haben geweint.“ „Oh
je. Warum denn?“ „Weil
wir nach einer langen und nicht gerade erbaulichen Nacht aus dem Schlaf
gerissen worden sind. Weil wir dringend unsere Ruhe brauchen. Weil wir
darauf gehofft haben, sie wenigstens heute, am Christtag, zu
bekommen!“ Ist
es denn wirklich noch möglich, den Vorwurf, der in diesen Worten liegt,
zu überhören? Durchaus: Emphase ruft nicht notgedrungen Empathie
hervor. Lärm ist das Geräusch
der anderen, hat Kurt Tucholsky einmal geschrieben, und so vermag
sich der andere, nämlich der Nachbar, nicht im Geringsten vorzustellen,
was der eine, nämlich der Lemming, von ihm will. „Das
tut mir aber Leid für Sie“, meint er in jenem argwöhnisch-sanften
Tonfall, den man in der Regel bei verirrten Psychopathen und entflohenen
Gewaltverbrechern anschlägt. „Und für den Kleinen natürlich. Ich würde
Sie ja gern zu mir herein ... Nur leider ist es heute auch bei mir ein
wenig laut.“ „Ach,
wirklich? Auch bei Ihnen? So ein Zufall! Könnte es vielleicht sein,
dass Sie hier die gleichen Geräusche hören wie wir drüben?“ „Aber
nein!“ Der Bebrillte lacht auf. „Ich bin nur grad am Basteln, wissen
Sie? Eine neue Bücherwand fürs Wohnzimmer. Kirsche, Vollholz,
wunderbar gemasert. Und alles selbst geplant, nicht einfach aus dem Möbelhaus.
Wenn einer handwerklich was drauf hat, schafft er das in, sagen wir,
zwei bis drei Wochenenden. Oder eben in den Ferien, weil sonst, nach der
Arbeit, bin ich meistens schon zu müd dazu. Aber ... Kommen S’
einfach weiter, schauen Sie selbst: Das Kirscherl ist wirklich eine
Augenweide.“ Vom eigenen Enthusiasmus mitgerissen, tritt der Nachbar
zur Seite und gibt den Weg in sein Vorzimmer frei. „Danke,
aber ich ... Wir wollen Sie nicht aufhalten“, murmelt der Lemming
betreten. „Na,
dann machen wir’s doch so: Ich zeig Ihnen mein Prachtstück, wenn es
fertig ist. Im neuen Jahr dann. Kommen S’ einfach vorbei, wenn Sie
Lust haben. Ja?“ „Ja
... Aber ...“ „Sehr
schön. Dann fröhliche Weihnachten noch.“ „Ja ... Fröhliche Weihnachten ...“
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