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Eine Begegnung
(aus "Herr Novak und die Mausfrau")
Herr
Novak war ein sehr fleißiger Mäusemann, auch wenn das niemand wusste. Morgens,
nach dem Aufstehen, spielte er meistens ein wenig Bassgeige. Dann
schlüpfte er in seinen Alteherrenmantel. Den hatte er von seinem Vater,
und sein Vater wieder hatte ihn von Herrn Novaks Großvater bekommen.
Danach ging er ins Kaffeehaus. Kaffeetrinken und Zeitungen lesen. Zu
Mittag aß er eine Kleingkeit. Am
Nachmittag erledigte Herr Novak andere wichtige Dinge. Er sah die Post
durch, schrieb selbst ein paar Briefe, ging ein wenig spazieren, kaufte
ein, dieses und jenes, kehrte heim, las, hörte Musik. Abends
traf Herr Novak Freunde. Dann spielte er Schach oder Domino und ließ sich
den neuesten Tratsch erzählen. Einmal
in der Woche wusch er Wäsche. Einmal
in zwei Wochen räumte er die Wohnung auf. Einmal
in drei Wochen wischte er den Staub von den Möbeln. Einmal
in vier Jahren putzte er die Fenster. Das machte er nicht so gerne. Die
meisten Mäuse, die in seiner Gasse wohnten, schüttelten ihre Köpfe über
Herrn Novak, wenn sie gerade Zeit dazu hatten. Sie hielten ihn für den
faulsten Mäusemann, der je in ihrer Gasse gewohnt hatte. Sie hatten unrecht. In Wahrheit war Herr Novak fleißig, sogar überaus fleißig, vielleicht fleißiger als sie alle zusammen. Herr Novak war ein Denker, er dachte dauernd nach, aber das merkte niemand. Er dachte sich Geschichten aus, er war ein Geschichtenerfinder, aber auch das merkte niemand. Weil Herr Novak seine Geschichten niemals aufschrieb. Weil Herr Novak seine Geschichten niemals erzählte. Er bewahrte die Geschichten allesamt in seinem Kopf auf, und da blieben sie auch.
Die
Sonntage mochte Herr Novak gar nicht. An den Sonntagen blieb das
Kaffeehaus geschlossen. Der Briefträger trug keine Post aus, und die Straßen
lagen wie ausgestorben. An den Sonntagen hatten selbst seine Freunde keine
Zeit für ihn. „Sonntag ist Familientag“, sagten sie und verdrehten
dabei die Augen und seufzten ein wenig. An den Sonntagen konnte Herr Novak
keine Geschichten erfinden. Sonntage machten ihn nervös. So versuchte er, sich abzulenken. Manchmal ging er ins Museum und sah sich die Bilder seines Lieblingsmalers an. Manchmal ging er ins Kino und schlug sich den Bauch mit Popcorn voll. Manchmal spazierte er zum Bahnhof und beobachtete das bunte Treiben auf den Bahnsteigen. Er mochte es, wenn Mäuse auf die ankommenden Züge warteten. Sie waren fröhlich und aufgeregt. Wenn ein Zug kam, war der Bahnsteig voller Blumen. Die abfahrenden Züge mochte Herr Novak nicht so gerne.
Abschiede fand er traurig. Wenn ein Zug die Stadt verließ, war der
Bahnsteig voller Taschentücher. An
einem jener langweiligen Sonntage besuchte Herr Novak das Internationale Käsefest
im Städtischen Mäusezentrum. Er bereute das sofort. Anscheinend waren
heute alle ins SMZ gekommen, von der Hausmausfrau und dem Waldmausmann bis
zum Springmauskind. Das Gedränge war entsetzlich. Herr Novak mochte kein
Gedränge. Aber er hatte bereits Eintritt gezahlt. Und wer Eintritt zahlt,
der will sich auch vergnügen. Eine
Weile
schlenderte
Herr
Novak
zwischen
all den Hart- und Weichkäsereklameschildern und Schimmel- und
Streichkäsebuden hin und her. Rund um ihn kauten und schmatzten die Mäuse.
Ihm
selbst aber war der Appetit längst vergangen. All die schweren Düfte
vernebelten seinen Kopf. Es gab so viele Käsesorten, die Herr Novak gar
nicht kannte. Das verwirrte ihn. Herr Novak beschloss, heimzugehen. Er
suchte den Ausgang und freute sich auf Montag. Da
sah er sie. Eine
Mausfrau. Sie
saß auf dem Boden, inmitten von Mäusekindern, vor sich einen vollen
Teller. Cheddar - Herrn Novaks Lieblingskäse. Die Mausfrau scherzte,
lachte fröhlich, neckte die kleinen Mäuse, fütterte sie liebevoll,
wischte ihnen die Krümel aus den Schnäuzchenwinkeln. Und
dann blickte sie auf, plötzlich, blickte in Herrn Novaks Gesicht. Lächelte,
ein wenig fragend, wie es ihm schien. Diese
Augen, dachte Herr Novak, diese Augen... Er
stand da wie angewurzelt. Er begann, Worte zu suchen, obwohl er an
Sonntagen noch nie welche gefunden hatte. Worte für diese Mausfrauaugen.
Worte, wie „tief“ und „zärtlich“ und „heiter“ und
„ehrlich“. „Was
ist denn los? Was geschieht uns?“, fragte sein Kopf. „Eine
Geschichte,“ flüsterte sein Herz, „eine Geschichte ...“ Herr
Novak sagte nichts. Herr Novak tat nichts. Er traute sich einfach nicht.
Was, wenn sie gar nicht mit ihm sprechen wollte? Das hätte ihn sehr
traurig gemacht. Schließlich
wandte er sich ab, knöpfte seinen Alteherrenmantel zu und ging heim. Es
war ein wundervoller Sonntag gewesen.
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