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Die Geschichte der heiligen Hühner
(aus "Das Schweigen des Lemming")
„Wie
sie entsteht, die Kunst? Was das überhaupt sein soll: die Kunst? Eine
Einflüsterung, das ist sie. Etwas, das von außen kommt, von oben, von
der Natur – von Gott, wenn du so willst. Etwas, das dich durchströmt
und Wirklichkeit wird, obwohl es schon lang vor dir da war: latent
vorhanden, aber trotzdem unsichtbar. Wie bei einem Radioapparat, in dem
ja auch kein winziges Orchester spielt. Wenn also der Baum aus der Erde
wächst, ist’s keine Kunst. Aber wenn er aus deinem Geist wächst ... Die
Menschen sind schon seltsame Tiere: Sie sind immer auf der Suche nach
der großen Sensation. Damen ohne Unterleib, Schafe mit zwei Köpfen,
Zwerge, Riesen und siamesische Zwillinge: Für derlei haben die Leute
schon immer gern Eintritt gezahlt. Wo sich das Dasein selbst ein
Schnippchen schlägt, da erstarrt das Publikum in wohligem Schaudern, da
geht ein ergriffenes Raunen durch die Menge, weil sie glaubt, einen
Blick über die Grenzen der Schöpfung getan zu haben. Es gibt sie ja
schon lang nicht mehr, die Kuriositäten- und Abnormitätenkabinette auf
den Jahrmärkten, aber mit ihrem Aussterben hat sich ein anderes Phänomen
etabliert: die Künstlerverehrung. Anstatt des Elefantenmenschen wird
heute der Künstler bestaunt, und wohlgemerkt: der Künstler höchstpersönlich.
Weit mehr als seine Arbeiten gilt er selbst als das Kunstwerk, das
Mysterium. Es ist fast so, als würde man den Winzer trinken wollen,
nicht den Wein. Fast natürlich nur, nicht ganz: Der Kunstmarkt lebt ja
besser denn je von den Blättern der Bäume, die dem Geist seiner
Paladine entsprießen. Es sind Reliquien, kostbare Ikonen; man glaubt,
mit ihnen ein Stück von der heiligen Seele des Künstlers zu besitzen. Vom
Leonardo da Vinci wird erzählt, dass er einmal stundenlang in einer
Ecke seiner Werkstatt gestanden ist und gebannt auf die Wand gestarrt
hat. Dort hat sich am Verputz ein Wasserfleck gebildet, eine feuchte,
braune Schliere mit grünem Schimmel an den Rändern. Irgendwann hat
einer seiner Schüler den Alten gefragt, was ihn so fesselt an diesem
Anblick. Und Leonardo hat gemurmelt: „Selbst, wenn ich tausend Jahre
alt würde, könnte ich etwas so Wundervolles nicht zustande bringen
...“ Jetzt
frag ich dich: Ist die Kunst erst Kunst, wenn sie von einem wachen,
klaren und geschulten Geist hervorgebracht wird? Oder geht es letztlich
doch nur um das Resultat, um die sichtbare, spürbare Ausgeburt, völlig
egal, ob sie das Werk eines gelernten Spezialisten, eines Dilettanten,
eines Schimpansen oder eines Wasserrohrbruchs ist? Der große Leonardo
hat die Frage auf seine Weise beantwortet: Er war davon überzeugt, in
einer undichten Regenrinne seinen Meister gefunden zu haben. Die
heutigen Sammler und Kuratoren denken da ein bisserl anders. Für sie
muss der Künstler schon ein Mensch – na, zumindest ein Lebewesen
sein. Das Problem bei der Sache ist nur: Es gibt mittlerweile so viele
... Ein Job, der dich – mit etwas Glück – zur steinreichen lebenden
Legende macht, zieht die jungen Leut natürlich an wie das Licht die
Motten. Wie also noch unterscheiden zwischen den echten und den falschen
Künstlern, zwischen den rein beruflichen und den wahrhaft berufenen?
Die Lösung ist ganz einfach, und sie lautet: zurück zum Kuriosen. Nachdem
man sich eine Zeit lang mit den Bildern und Skulpturen der letzten
Eingeborenenvölker sanieren konnte, dann mit Kinderzeichnungen und mit
den Gemälden geistig Behinderter, hat man sich etwas Neues einfallen
lassen müssen. Es kann den Leuten halt gar nicht archaisch genug sein:
Ungekünstelte Kunst, das ist es, was sie wollen. Man hat natürlich
verschiedenste Drogen ausprobiert, um die Wurzeln des Bewusstseins, des
gestalterischen Willens freizulegen: eine Sackgasse. Der ganze
psychedelische Mist ist glücklicherweise passé. Also erfindet die
westlich-moderne Vernunft inzwischen ausgeklügelte Systeme, um sich
selbst zu überlisten und dem Zufall, dem Chaos, dem göttlichen Quell
aller Schöpfung den Weg zu bereiten: Da werden eigens Maschinen
konstruiert, um die Farben auf die Malgründe zu schleudern, da werden
zufallsgesteuerte Spritzdüsenanlagen verwendet, da werden die Leinwände
der Witterung ausgesetzt oder dem Einfluss unberechenbarer Chemikalien,
bis sie zu so etwas wie Bildern mutieren. Der Unterschied zu Leonardos
Wasserfleck besteht nur darin, dass diese Prozesse unter menschlicher Ägide
stattfinden. Geht die Regenrinne von allein kaputt, ist’s keine Kunst.
Aber wenn du selbst das Leck hinein schlägst ... Und
dann natürlich die Tiere: Kunst am Puls der Natur, primitiver geht es
schon gar nicht mehr. Man setzt Schimpansen und Orang-Utans vor die
Staffelei, man drückt den Elefanten Borstenpinsel in die Rüssel, man lässt
Katzen und Hunde und Esel malen ... Warum
ich dir das alles erzähle? Ganz einfach: Weil es mich zur dritten
Geschichte bringt, zum Streich der Löwin nämlich. Weil ihre schrullige
Störaktion an diesem wunden Punkt des Kunstbetriebs angesetzt hat. Nur
dass sie noch eine gehörige Prise Frömmelei hinzugefügt hat, um dem
Ganzen die richtige Würze zu geben ... Gleich
hinter der Akademie steht die berühmte Secession mit ihrer riesigen
goldenen Lorbeerkuppel. Du kennst sie ja, du weißt ja, was vorn auf der
Fassade steht: Der Zeit ihre
Kunst, der Kunst ihre Freiheit ... Ein Leitsatz, eine Maxime für
die Löwin, den Adler, den Bären und den Floh. Also hat sich die Löwin
die Freiheit genommen, bei einer Ausstellung mitzumachen, bei einer
gemeinsamen Werkschau mehrerer Studenten, die in den Räumen der
Secession stattfinden sollte. Ein Kunstpapst wie dieser Gernot Halbsund
hätte ihre Arbeit vielleicht als biomorphotische Installation
bezeichnet, oder besser noch: als oszillierende Ahnung des Okkulten,
dessen flüsternder Fluxus unmerklich zum Happening reift und Spuren
ziehend übergreift auf die Befindlichkeit des Sehers, des Lauschers und
Stauners ... Scheiß
drauf. Stell dir einfach folgendes Szenario vor: Der
Hauptraum der Secession. An den Wänden diverse Gemälde junger Künstler,
hier und da auch Skulpturen, Objekte, flimmernde Computermonitore. In
der Mitte der Halle eine leere quadratische Fläche, aus hölzernen
Platten zusammengefügt und gut drei mal drei Meter groß. Bei näherer
Betrachtung kann man erkennen, dass die strahlend weiß grundierten
Platten seltsam gesprenkelt sind: Gleichmäßig bis an den Rand
verteilt, liegen tausende gelbliche Körner darauf, kaum größer als
Stecknadelköpfe. Rund um das Geviert hat sich das Publikum aufgestellt.
Sechzig, siebzig Leute werden es schon sein, die da ein wenig
gelangweilt ihren Wein und ihr Mineralwasser schlürfen – die
Erwartungen scheinen nicht gerade hoch zu sein, aber wenigstens haben
ein paar Journalisten den Weg in die Ausstellung gefunden: Sommerloch,
Saure-Gurken-Zeit. Man berichtet über das Wetter, über Loch Ness, den
Yeti und die Kunst ... Von
einer Ecke des Quadrats laufen zwei niedrige Holzplanken quer durch den
Raum; sie schlagen eine schmale Bresche in die Gruppe der Zuschauer und
enden an einer unscheinbaren Tür. Das Ganze wirkt wie ein zu klein
geratener Boxring, wie eine Manege ... Irgendwann
schiebt sich die Löwin – mit einem weißen Overall bekleidet –
durch die Menge und ergreift das Wort. „Treten Sie bitte zwei Schritte
zurück“, sagt sie, „bewahren Sie nach Möglichkeit Ruhe und machen
Sie keine abrupten Bewegungen, um die Künstler nicht in ihrer
Konzentration zu stören ...“ Und
dann ist es losgegangen. Die Tür am anderen Ende des Raums ist geöffnet
worden, und heraus sind – tänzelnd und gackernd – zwölf Hühner
gekommen. Von
Ruhe war natürlich keine Rede mehr. Das Schnarren und Glucken der Vögel
ist sofort vom Kichern der Leute übertönt worden – die Szene war ja
auch wirklich skurril, vor allem, wenn man bedenkt, wie die Hennen
ausgesehen haben: Als hätten sie sich für den jährlichen Maskenball
der Ufologen als Außerirdische verkleidet. Um ihre Köpfe waren dünne
Lederriemen geschlungen, von denen kleine, zitternde Spiralfedern
abgestanden sind. Und oben an den Federn ist jeweils ein schwarzer
Filzstift gesteckt ... Als
die ersten Hühner in die Arena gestelzt sind, hat leise Musik
eingesetzt: Aus versteckten Boxen ist das Ave-Maria von Brahms
erklungen; die Zuschauer haben sich langsam beruhigt und sind mit
belustigten Mienen dem Schauspiel gefolgt. Bald war nichts mehr zu hören
als die Musik, das Gegacker und das Klopfen der Filzschreiber: Die
Hendeln haben ganz gierig die Körner von der Holzplatte gepickt, und
mit jedem hektischen Vorschnellen ihrer Köpfe sind auch die
Spiralfedern nach vorne gewippt, sodass die Filzschreiber eine Unzahl
winziger Punkte auf die Platte getüpfelt haben. Geflügelpointillismus,
wenn du so willst ... Das
ging gut eine halbe Stunde so. Und dann – mit einem Mal – ist das
Publikum wieder unruhig geworden. Aber nicht aus Fadesse, beileibe
nicht: Es war kein gelangweiltes Murren, das da plötzlich um sich
gegriffen hat, sondern ein staunendes Tuscheln und Raunen. „Mein
Gott ...“ „Das
ist doch ...“ „Ich
glaub’s einfach nicht ...“ Der
Bär, der Adler und der Floh haben den Anstoß gegeben; sie haben sich
vorher schon unter die Leute gemischt, um – auf ein vereinbartes
Zeichen – die Stimmung anzuheizen. Aber das wäre gar nicht nötig
gewesen. Zu klar hat sich die Zeichnung vom Untergrund abgehoben, zu
eindeutig haben sich die schwarzen Punkte auf der weißen Fläche
verdichtet, um noch einen Zweifel am Motiv des Kunstwerks offen zu
lassen: ein Kopf, ein rundes Gesicht, von langen Haaren umrahmt. Und über
dem Scheitel ein Glorienschein ... „Heilige
Maria Muttergottes ...“ Wunder
im Herzen von Wien!,
so hat die Reine Wahrheit am
nächsten Tag getitelt, und darunter: Heilige
Hühner sorgen für Aufruhr! Vatikan entsendet päpstliche Delegation ... Ob
das mit dem Vatikan wirklich gestimmt hat, weiß ich nicht. Die ganze
Sache ist nämlich zwei Tage später aufgeflogen. Ein Sammler hat der Löwin
eine beträchtliche Summe für ihr Marienbildnis geboten, und ein
bekannter Wiener Galerist wollte ihr sogar die Hühner abkaufen – für
einen gigantischen Geldbetrag. Das war der Zeitpunkt, an dem die Löwin
die Notbremse gezogen hat, ein bisschen aus Angst vor der eigenen
Courage, vor allem aber aus moralischen Gründen: Die Grenze zwischen
Schabernack und Gaunerei führt schließlich immer durch das
Portemonnaie. Hühner
fressen ja bekanntlich alle Arten von Getreide, und sie tun es umso
lieber, wenn die Körner grob gemahlen sind. Mais-, Weizen- und
Roggenschrot: ein wahres Festmenü fürs Federvieh, da ist es den Vögeln
auch ganz egal, ob du es vorher in Lebensmittelfarbe getaucht hast. Was
sie dagegen partout nicht fressen wollen, das ist eine Mischung aus
feinem Kies und Katzenstreu, auch wenn diese Mischung genauso aussieht
wie die Getreidebrösel. Gelblich eingefärbt und auf jene Flächen
verteilt, die am Ende weiß bleiben sollten, sind die ungenießbaren
Steinchen dann auch von den Hendeln verschmäht worden ... Es
war ein ganz schöner Aufwand, das unsichtbare Madonnenportrait wie ein
buddhistisches Mandala auf die Holzplatten zu streuen, aber die Arbeit
hat sich am Ende gelohnt: Nachdem ihm die Löwin das Geheimnis der zwölf
apostolischen Hühner gestanden hat, ist der Sammler in schallendes Gelächter
ausgebrochen. Und er hat das Bild dann doch noch gekauft, trotz oder
vielleicht gerade wegen seiner profanen Entstehungsgeschichte. Was mit den Hühnern geschehen ist? Nein, die haben nach der Beichte der Löwin keinen Käufer mehr gefunden. Sie sind den Weg alles Irdischen gegangen, eins nach dem anderen. Um es dezent zu formulieren: Sie haben sich von der sakralen Kunst der Kochkunst zugewandt ...“
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