Home    Neues    Ich    Termine    Publikationen    Kritiken    Bibliographie    Texte    Bilder    Kontakt

 

 

Halsknacker

(aus "Halsknacker")

 

Der Polivka sitzt müde auf der Couch und zappt sich durchs Abendprogramm. Es ist kurz vor neun; auf allen Sendern wird fleißig gemordet und aufgeklärt. Inspektor Columbo hat noch eine Frage, Harry holt schon mal den Wagen, Monk klaubt ein Fussel von seinem Jackett. Der Polivka zappt weiter, ärgerlich und immer ärgerlicher. Schließlich zahlt man auch als Krimineser seinen Fernsehbeitrag, und was bekommt man geboten? Nichts, was man nicht vor dem Dienstschluss auch schon hatte, nichts als seinen Job. So, als würde ein Grubenarbeiter seine hart verdiente Kohle für Dokumentarfilme über den Bergbau verpulvern.

Neun Uhr. Auf dem Bildschirm untersucht ein Pathologe Hautpartikel eines Serienkillers, die er dem Mageninhalt eines Goldfischs entnommen hat, in dessen Glas die Tatwaffe (eine halbautomatische Glock) gefallen war. Polivkas Handy läutet: Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett. Diesen Klingelton hat der Polivka dem Kommissariat zugeordnet, allerdings weniger aus humoristischen Gründen als aus solchen beruflicher Selbstüberlistung: Um die ungeliebte Melodie nicht länger hören zu müssen, hebt er ab, der Polivka.

 

Als eine der am eifrigsten befahrenen Durchzugsachsen Wiens führt der Heumarkt an der östlichen Flanke des Stadtparks entlang vom Schwarzenbergplatz Richtung Donaukanal. An manchen Stellen, so etwa im Bereich seiner Kreuzung mit der Johannesgasse, fächert er sich stolz zur achtspurigen Straße auf: ein hässliches, stinkendes Zeugnis dafür, dass die Stadtplanung nicht den Flaneuren, sondern nur den Chauffeuren dient. Der Heumarkt ist aber nicht immer so ein Menschenfeind gewesen. Durch seine Nähe zum Zentrum und durch seine Lage am Stadtpark zählte er einst zu den beliebtesten Wohnadressen Wiens. Von dieser Ära zeugt auch noch das eine oder andere alteingesessene Lokal, das hier zu finden ist: durchwegs verwitterte Schönheiten und gebrechliche, gedemütigte Helden.

Vor dem Haus am Heumarkt Nummer 15 rotieren die Blaulichter. Der Polivka steigt ächzend aus dem Wagen und betrachtet die Biedermeierfassade. Kein Schild, kein Schriftzug lässt darauf schließen, dass das Erdgeschoß dieses Gebäudes ein Kaffeehaus beherbergt. Der Polivka schlägt seinen Mantelkragen hoch (das hat er im Fernsehen gelernt) und betritt das Café am Heumarkt.

Er findet sich in einer luftigen, weitgehend schmucklosen Halle wieder, in einem jener L-förmigen Säle, wie sie alten Wiener Ecklokalen eigen sind. Vor einer mächtigen, zentral platzierten Marmorsäule röchelt eine hochbetagte Kühlvitrine vor sich hin, die Wände sind braun patiniert. Zwei ramponierte Karamboltische scheinen von Zeiten zu träumen, in denen das Wörtchen Kultur noch nicht mit Hedgefonds und ungesättigten Fettsäuren assoziiert wurde. Es ist ein großes, altes Tier, dieses Kaffeehaus, und es trägt den unaufhaltsamen Niedergang seiner Spezies mit Gleichmut. 

Der Polivka nestelt seine Zigaretten aus der Manteltasche, um sich eine anzuzünden – wo sonst, wenn nicht hier –, als ein Mann im weißen Arbeitskittel auf ihn zueilt und ihm einen Aschenbecher hinhält. „Net bös sein, gnä Herr, aber rauchen dürfen S’ da herinnen net. Sie wissen scho, Umgebungsdings; wir san ja gesetzlich verpflichtet ... Noch dazu, wo wir das Haus heut voller Kieberer haben.“

„In Ordnung“, seufzt der Polivka und dämpft die Zigarette aus, „wo sind denn die Kollegen?“

„Wen meinen S’ ’leicht? Welche Kollegen?“

Der Polivka seufzt noch einmal. „Ich bin der Oberkieberer.“

 

Die Kollegen befinden sich in einem kleinen, unwirtlichen Extrazimmer neben den Toiletten. An der Tür signalisiert ein Etikett, dass man in dieser Kammer sogar noch Tabak verbrennen darf – ein skandalöser Zustand in Zeiten der modernen Fettsäurekultur. Auf einem Sessel inmitten des Raums sitzt die Leiche: ein blasses, zerknittertes Männchen in dunklem Jackett und schneeweißem Hemd. Sein graumelierter Kopf ist tief auf seine Brust gesunken. Blut ist keines zu sehen.

„Genickbruch“, brummt ein hagerer Kollege dem Polivka entgegen. „Sagt der Doktor jedenfalls.“

„Dir auch einen schönen Abend“, gibt der Polivka zurück. „Und wo ist er jetzt, der Doktor?“

„Weg. Daheim wahrscheinlich.“

„Und wer ist der Tote?“

„Karl Hudak“, antwortet da eine Stimme in Polivkas Rücken. Der weiße Arbeitskittel ist ihm unauffällig gefolgt; er steht im Türrahmen und steckt sich eine Zigarette an. „Der Hudak“, sagt er jetzt und bläst eine Rauchwolke aus, „ist Stammgast bei uns, seit ich denken kann. Also seit immer.“

„Jetzt nimmer.“ Der Polivka zieht einen Stuhl heran und setzt sich. „Wann ist er denn heute gekommen?“

„Gegen Mittag, wie üblich. Er hat sich die Zeitungen geschnappt und sich da hinten hereingesetzt. Früher, da hat er noch vorn seinen Stammplatz gehabt, gleich neben dem Ofen.“

„Verstehe. Und wer war heut noch da herinnen?“

„Fast niemand. Schauen S’ doch selbst“, der Kellner deutet durch die Glastür in den leeren Gastraum, „wir sind nicht mehr gefragt bei den Leuten. Die Heutigen gehen zuerst ins Fitnessstudio und dann in irgendeine durchdesignte Multivitaminbar, und die Gestrigen wollen nix wie ihre Ruh von diesem überkandidelten Schnickschnack. Nur, zur Ruh gehört halt auch, Sie wissen schon ...“ Der Kellner hält die Zigarette hoch.

„Wo gehen sie denn stattdessen hin, die Gestrigen?“, fragt der Polivka, der bei Vernehmungen nicht selten abzuschweifen pflegt.

„Die bleiben z’ Haus und schauen ins Fernsehkastel.“

„Ah, so. Das klingt ... traurig.“ Der Polivka räuspert sich leise. „Sie haben also g’sagt, fast niemand war hier hinten beim Herrn Hudak. Was heißt fast?“

„Na, abgesehen von meiner Wenigkeit war heut nur eine Dame da.“

„Und was für eine Dame?“

„Schon mehr von der reiferen, um nicht zu sagen, fossilen Art. Schlohweiße Haar’, und ein G’schau wie die bucklige Welt. Sie hat zuerst vorn bei der Budel ein Krügerl getrunken. Dann hat sie mich g’fragt, wo hier für Raucher ist und hat sich da herein verfügt.“

„Wie lang?“

„Ich weiß net. Eine Zigarettenlänge halt.“ Der weiße Kittel zuckt die Achseln, dämpft dann seine Zigarette aus. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen ...“

„Momenterl, bitte. Ihr Herr Hudak, was hat der normalerweise g’macht?“

„Na, was man halt macht im Kaffeehaus. Ein Mokka, ein Spritzer ... Zu Mittag hat er fast immer das Einsermenü bestellt.“

„Ich meine, wenn er nicht bei Ihnen im Kaffeehaus war. Wenn er ...“

„Der Hudak war immer da“, unterbricht der Kellner den Polivka. „Zumindest in den letzten dreißig Jahren.“

„Und davor?“

„Davor meistens auch. Nur im Sommer, da ist er am Eislaufplatz g’wesen.“

Der Polivka atmet tief durch und schließt die Augen. Er denkt an die Krimis im Abendprogramm. Er fragt sich, warum sich die Zeugenbefragung im Fernsehen so simpel gestaltet, viel einfacher als in der Praxis. „Am Eislaufplatz also. Im Sommer.“ Ein Nicken: Der Polivka heuchelt Verständnis.

„Natürlich, gleich drüben im Eislaufverein. Sie wissen schon: Catchen am Heumarkt. Der Hudak ist bis gegen Ende der Siebziger Ringrichter g’wesen.“

 

Der nächste Vormittag bringt wenig Neues im Fall Karl Hudak. Die Identität jener schlohweißen Frau bleibt im Dunkel; die Pathologie bestätigt die Todesursache – Genickbruch – und eine routinegemäße Befragung verschiedener Datenbanken fördert nicht viel Interessantes zutage: Hudak ist in Poysdorf aufgewachsen (wo seine Eltern ein Wirtshaus betrieben) und Mitte der Fünfzigerjahre nach Wien übersiedelt. Automechanikerlehre, keine politischen Aktivitäten. Später feste Anstellung in seiner Lehrwerkstatt in Meidling; eine kinderlose Ehe, allerdings ein kurzes Intermezzo, das durch den frühen Tod seiner Frau (Anna Hudak, geborene Jindrak, verstorben 1963 an Tuberkulose) sein Ende fand. Ende der Sechziger Kündigung seines bisherigen Arbeitsverhältnisses und Wechsel in den Schaustellerbereich – so steht es in den Akten. Anfang der Achtziger, das heißt bereits mit vierzig Jahren, Rückzug ins Privatleben. Viele Fährten, keine Spur. Das Melderegister zeigt sich zwar kooperativ – es spuckt Hudaks Adresse aus –, aber weder die Durchsuchung seiner Wohnung im zweiten Bezirk noch die Befragung seiner Nachbarn führen zu verwertbaren Erkenntnissen. Ein ruhiger Mensch soll er gewesen sein, ein angenehmer Nachbar, abgesehen von seiner Qualmerei. Der Polivka seufzt.

 

Im Internet schaut sich der Polivka am frühen Nachmittag diverse Filme an. Über den Heumarkt und seine Bedeutung für den europäischen Freistilringersport. Wobei ihm die Bezeichnung Sport schon bald zu hoch gegriffen scheint. Ein Zirkus, ja, durchaus artistisch, aber doch vor allem kurios. Dieser Haufen grotesker Kolosse, die sich brüllend, schnaufend, schwitzend aufeinander stürzen, diese völlig entmenschten Zwei-Zentner-Primaten, grell und exaltiert in ihren Posen. Dazu dieses grölende, geifernde Publikum. „Reiß eahm die Brust auf und scheiß eahm ins Herz!“, vernimmt der Polivka aus den Computerboxen. „Prack eahm die Augen durchs Hirn, dann kann er mit sein’ Oasch auf d’ Uhr schauen!“ Am öftesten ist aber folgender Ausruf zu hören: „Brich eahm’s G’nack, Bua! Brich eahm’s G’nack!“

Der Polivka tippt eine Nummer ins Handy. „Sei so gut und schau mir was nach, und zwar alle verfügbaren Adressen von ehemaligen Freistilringern. Du weißt schon: Catchen am Heumarkt ... Na, vornehmlich wohnhaft in Wien, aber bitte schön nicht am Zentralfriedhof.“

 

„Es war eine herrliche Zeit, aber jetzt ist sie leider vorbei.“ Gustav Watzinger lächelt versonnen; er fährt sich mit seinen noch immer gewaltigen Pratzen über die schimmernde Glatze. „Ich selber hab ja schon im Neundundsiebzigerjahr das Handtuch g’worfen. Man soll aufhören, wenn’s am schönsten ist.“

„Wieso am schönsten? Haben Sie was gewonnen damals? Irgendeinen Titel?“ Der Polivka lässt seinen Blick durch das winzige Wohnzimmer Watzingers streifen: keine zur Schau gestellten Pokale, keine Medaillen, ja nicht einmal die unter Sportlern so beliebte Fotogalerie.

„Nein, g’wonnen hab ich nichts. Ich war ja der Böse im Ring, also der, den das Publikum verlieren sehen wollt’. Und was das Publikum sich g’wünscht hat, das war immer oberstes Gebot: Die Kämpfe waren natürlich vorher abgesprochen, bis ins Kleinste choreographiert. Das hat aber nichts an der sportlichen Note geändert, ganz im Gegenteil: So ist halt zur Athletik noch die Disziplin dazugekommen. Es ist gar nicht so leicht, einen Gegner gewinnen zu lassen, der dir heillos unterlegen ist.“ Watzinger beugt sich schwerfällig vor, zieht eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch und steckt sie sich ins runzlige Gesicht. „Sie müssen sich das vorstellen: jeden Abend volles Haus, zehntausend, zwölftausend Leut’, Herr Kommissar! Seinerzeit haben wir noch Extratribünen gehabt, bis hinauf zum Konzerthaus, aber die haben sie später dann abmontiert. In den Achtzigern sind ja die Zuschauer zunehmend ausgeblieben; der moderne Mensch will sich halt lieber z’ Haus vorm Fernseher beschwindeln lassen. Im Achtundneunzigerjahr war alles endgültig vorbei, das war die letzte trostlose Saison der Heumarktringer. Gut, dass ich’s nicht mehr erleben hab müssen.“

Der Polivka raucht sich jetzt auch eine an. „Und der Hudak?“, fragt er. „Was war das für einer?“

„Der Hudak Karl? Meiner Seel, was soll ich sagen? Wortkarg war er und ein bisserl verklemmt. Zum Beispiel hat ihm der Veranstalter einmal gesagt, dass sich die Schiedsrichter am Abend Schottenröcke anziehen sollen, das tät den Leuten draußen g’fallen. Der Hudak hat sich aber strikt geweigert. Transvestiten kannst du dir woanders suchen, hat er g’sagt, also hat am End ein anderer den Job gemacht.“

„Und deshalb ist er ausgestiegen aus dem G’schäft?“

„Nicht deshalb, nein. Ich glaub, er hat im Lotto g’wonnen oder irgendwas geerbt. Genau kann ich’s nicht sagen, das war ja schon nach meiner Zeit.“

„Und Ihre früheren Kollegen? Haben Sie noch Kontakt mit denen?“

„Nein. Schon lang nicht mehr. Die meisten waren ja auch von auswärts: Der wilde Mugumba beispielsweise – der hat immer einen Gürtel angehabt, an dem so kleine Schrumpfköpfe gebaumelt sind –, der war in Wahrheit Italiener. Oder Jochen, der Knochenbrecher Schulze: ein Exmatrose aus Hamburg. Ich weiß gar nicht, ob die alle noch am Leben sind.“

Der Polivka zückt den Notizblock und blättert, bis er die richtige Seite gefunden hat. Nicht mehr als zwei Namen sind darauf vermerkt: sein Gegenüber Gustav Watzinger und ... „Was ist mit dem Krutitz?“, fragt der Polivka. „Paul Krutitz. Das ist doch ein Wiener.“

Watzinger grinst. „Den gibt’s noch, den Krutitz? Pawel Gulag Krutnikow, so hat er im Ring geheißen. Er war einer von den Bösen, so wie ich. Verfilzter Vollbart, dreckiges Trikot mit einem aufgenähten Sowjetstern. Wenn er die Leute angepöbelt hat, dann hat man seine Zahnlücken gesehen; die waren natürlich aufgemalt, mit einem schwarzen Stift. Der Krutitz ist mit einer Riesenflasche Wodka aufgetreten, jedenfalls ist das am Etikett gestanden, und das Publikum hat ihn dafür gehasst. Nach einem guten Griff – zum Beispiel einem Ohrenreiberl oder einem Nackenstaucher – hat er jedes Mal die Fäuste in die Luft gestreckt und seine Achselhöhlen beschnuppert. Ja, der Krutitz Pauli ... Sagen S’, wie geht’s ihm denn? Haben Sie ihn auch schon getroffen?“

„Noch nicht.“

„Dann lassen S’ ihn doch bitte herzlich grüßen, wenn S’ ihn sehen.“

 

Paul Krutitz also ist die letzte Spur einer Chance auf den Hauch einer Spur in der Mordsache Hudak. Dem Polivka hat Krutitz heute Nachmittag am Telefon gesagt, er sei – nach langen Jahren im Ausland – erst kürzlich wieder nach Wien übersiedelt. Er wohne deshalb noch zur Untermiete und sei nicht empfangsbereit; mit einem abendlichen Treffen im Kaffeehaus sei er aber einverstanden. Und so kommt es, dass der Polivka jetzt an den Ort der Tat zurückkehrt, in die Raucherkammer des Cafés am Heumarkt.

Pawel Gulag Krutnikow ist bereits da: Ein wohlbeleibter Greis im Tweedjacket, so sitzt er breit an jenem Tisch, auf jenem Stuhl, auf dem der Ringrichter Karl Hudak gestern hingerichtet worden ist. Auf Krutitz’ Nase sitzt ein wackeliges Brillengestell, um sein gerötetes Gesicht wallt ein enormer weißer Bart. Kaum, dass der Polivka den Raum betritt, stellt er sein Krügel Bier ab und steht schnaufend auf. „Herr Kommissar?“

„Nur Polivka, Herr Krutitz. Polivka, ganz ohne Künstlername.“

Die Herren nehmen Platz; der Polivka bestellt ein Achtel Rot beim weißen Arbeitskittel. Man greift schweigend zu den Zigaretten.

„Ich gehe davon aus, dass Sie des Mörders noch nicht habhaft sind“, beginnt Paul Krutitz endlich das Gespräch, „was ich betrüblich finde, weil ich diesen Unhold gerne hinter Gittern sähe. Hudak war ein Mann, dem ich, wenn schon nicht Zuneigung, so doch Respekt entgegenbrachte.“

Der Polivka horcht auf. Dass sich ein Freistilringer namens Pawel Gulag Krutnikow mit so gewählten Worten ausdrückt, macht ihn staunen.

„Wenn ich also in der Lage bin, zur Lösung dieses Falls mein Scherflein beizutragen, will ich es mit Freuden tun.“

„Vielen Dank, Herr Krutitz. Sagen S’ mir doch bitte erst einmal, ob Sie den Karl Hudak in der letzten Zeit gesehen haben.“

„Nein. Es hat sich, wenn ich mich nicht irre, vor drei Jahren zum letzten Mal ergeben, dass wir einander zu begegnen das Vergnügen hatten. Unsere Beziehung war sporadisch, auf dem Zufall aufgebaut. Wer Hudak suchte, wusste ohnehin, wo er zu finden war: in diesem Raum, an diesem Tisch.“

„Verstehe. Und die Catcher? Haben Sie mit dem einen oder anderen noch Kontakt?“

„Ich wüsste nicht, mit welchem. Bis vor kurzem stand ich noch im brieflichen Verkehr mit Sam Wolinsky, einem gebürtigen Polen, der später nach Amerika gegangen ist. Aber Sam, der Kinderfresser Wolinsky ist bedauerlicherweise letztes Jahr verstorben.“

„Und der Watzinger? Der Gustav Watzinger?“

Paul Krutitz lächelt milde. „Unser Gusti ... Nein, mit Gustav Watzinger bin ich seit vielen Jahren nicht mehr zusammengetroffen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Der Kollege Watzinger war mir nicht zugetan.“

„Warum nicht?“

„Nun, es kommt bisweilen zu Animositäten, wenn sich Kämpfer gegenüberstehen. Die Sympathie ist auch bei rauen Männern nur ein zartes Pflänzchen.“ Krutitz greift zu seinem Krügel, trinkt. „Sie müssen wissen“, fährt er fort und wischt sich den Bierschaum vom Mund, „dass das auch der Grund für seinen frühen Abschied vom Ringersport war. Im Sommer 1979 hat er einen Titelkampf verloren, und das, so scheint mir, hat er nicht verwunden.“

„Das versteh ich nicht. Ich dachte, dass die Kämpfe vorher abgesprochen waren.“

„Das waren sie in der Regel auch. Nur damals hat das Schicksal eben andere Wege eingeschlagen. Watzinger hätte gewinnen sollen, aber sein Gegner war einfach zu stark für ihn; er hat ihn in der Hitze des Gefechts vernichtet.“ Krutitz grinst verschmitzt.

„Und dieser Gegner“, sagt der Polivka, dem jetzt ein Licht aufgeht, „sind Sie gewesen: Pawel Gulag Krutnikow.“

Paul Krutitz nickt. „Es war kein hochklassiger Kampf. Zuerst das übliche Geplänkel: Ohrenreiberl, Wampenklatscher und diverse Schmähungen. Erst in der dritten Runde sind wir zunehmend in medias res gegangen. Watzinger hat einen Armschlüssel angesetzt, den ich im Handumdrehen zu parieren in der Lage war. Worauf er es mit seinem unbestrittenen Paradegriff, dem Halsknacker versucht hat, der für diesen Zeitpunkt aber nicht von uns vereinbart worden war. Ich habe das als Kriegserklärung aufgefasst und Watzinger mit einem lupenreinen Ausheber über die Seile geschickt. Er ist nicht fachgerecht gefallen, und, obwohl er augenblicklich wieder auf den Beinen war, benommen vor den Sitzreihen herumgetorkelt. Dabei hat er wüst das Publikum beschimpft, statt wieder in den Ring zu steigen. Also hat ihn der Kampfrichter ausgezählt und mir den Meistergürtel überreicht. Der Ringrichter war übrigens“, Paul Krutitz sieht den Polivka bedeutungsschwanger an, „kein anderer als Karl Hudak.“

„Hudak“, murmelt der Polivka. „Halsknacker“, fügt er gedankenverloren hinzu.

„Kollege Watzinger war außer sich vor Zorn, auch nachher in der Garderobe noch. Am nächsten Abend ist er ausgeblieben, auch am übernächsten. Erst drei Tage später hat uns der Veranstalter darüber informiert, dass unser Fräulein seinen Hut genommen hat.“

Der Polivka stutzt. „Unser ... was?“, stößt er heftig hervor.

„Unser Fräulein, Herr Polivka. Das war sein Künstlername: Gusti, unser Fräulein Watzinger. Sein Markenzeichen waren Perücke, Schminke und Plisseerock, manchmal auch Tutu.“

„Mein Gott ...“

„Mein Gott!“, ertönt es nun auch von der Tür her. „Sie ist wieder da, Herr Kommissar! Die Alte von gestern!“

Das Gesicht so farblos wie sein Kittel, hastet der Kellner herbei. Aber schon wird er rüde zur Seite geschoben und eine – man kann sie nicht anders bezeichnen – titanische Greisin tritt in den Raum. Eine seidene Bluse, die sich über der monströsen Oberweite spannt, ein gefältelter Rock, aus dem knorrige, haarige Waden ragen. Ein bulldoggenhaftes Gesicht unter einer – zu weit in die Stirn gerutschten – schlohweißen Perücke.

Es ist Gusti, unser Fräulein Watzinger.

„Der Hudak und du, ihr habts mir den Titel g’stohlen!“, bellt Watzinger heiser. „Und dann hast du dich abgesetzt, du feige Sau! Seit dreißig Jahren wart ich drauf, dass d’ endlich wieder z’rück nach Wien kommst, aber jetzt ... jetzt hol ich mir, was mir gebührt! Brauchst gar nicht deppert glotzen, Krutnikow; jetzt hilft dir keiner mehr, schon gar nicht dein Freund Hudak, diese schäbige Figur. Der hat ja damals schon, nach seinem Fehlentscheid, sein jämmerliches Schwanzerl eingezogen. Jeden Abend nach den Kämpfen hab ich auf ihn g’wartet, draußen vor der Tür: ‚Na, Hudak, kleiner Halsknacker gefällig?’ Zwei Saisonen, dann war er soweit, dann hat er dem Heumarkt Adieu g’sagt. Und gestern ... ja, gestern der Welt.“

Sie waren es“, konstatiert der Polivka. „Sie haben ihn umgebracht.“

„Ich hab ihn ein bisserl umarmt, aber leider: Er war halt dagegen allergisch. Der Hudak hat ja immer schon was gegen Herren in Damenkleidern gehabt, und wenn’s auch nur ein Schottenrockerl war.“

Der Polivka steht auf. „Herr Watzinger, Sie sind verhaftet“, sagt er feierlich.

Gustav Watzinger bedenkt den Polivka mit einem kurzen, abfälligen Blick; dann geht er langsam auf Paul Krutitz zu.

„Bleiben S’ stehen, Herr Watzinger!“, versucht es der Polivka noch einmal. Watzinger antwortet nicht. Es ist Paul Krutitz, der an seiner Statt das Wort ergreift.

„Nur einen Augenblick“, sagt Krutitz. Er erhebt sich mühevoll von seinem Sessel, windet sich aus dem Jackett, nimmt seine Brille ab und zieht sich dann mit elegantem Griff die dritten Zähne aus dem Mund. Mit einem schwer verständlichen „Wenn Fie fo freundlich wären“ drückt er dem Polivka Gebiss und Brille in die Hand.

„Ja, bravo! Hat sich der Krutnikow einen neuen Genossen gefunden!“ Gustav Watzinger entledigt sich nun gleichfalls seines Zahnersatzes und versenkt ihn in Polivkas Rotweinglas. „Jepf paff gut auf, Genoffe Gulag, ich reiff dir die Eier ab!“

Er ist ja nun kein ausgesprochen körperlicher Mensch, der Polivka. Und seine Dienstwaffe hat er, wie meistens, zu Hause gelassen. Also muss er nun tatenlos zusehen, wie die beiden wackeligen Alten in den Clinch gehen, wie sie ihre bläulich geäderten, zittrigen Hände ineinander krallen. Unser Fräulein startet bald den ersten Angriff; es bekommt den langen Bart von Pawel Gulag Krutnikow zu fassen, zerrt daran und presst dem Gegner seinen linken Ellenbogen ins Genick. Krutnikow röchelt, sein Blick geht ins Leere. Aber irgendwie gelingt es ihm, sich wieder hochzustemmen; mit gesenktem Kopf dringt er auf unser Fräulein ein, um ihm die Schulter in den Bauch zu rammen. Watzinger taumelt zurück, während Krutnikow die Fäuste in die Luft streckt und den Kopf zur Seite dreht, soweit es die Arthrose eben zulässt.

„Er beschnuppert seine Achselhöhlen“, murmelt der Polivka, der mittlerweile wieder Platz genommen hat. Krutitz’ Gebiss auf dem Schoß, so sitzt er jetzt neben dem Kellner, um den Kampf der geriatrischen Giganten zu verfolgen.

Unser Fräulein ist inzwischen unter beträchtlichen Mühen auf einen der Tische geklettert; es richtet sich schwer atmend auf. „Und jepf bekommf du deinen Gnadenftoof, Genoffe Gulag!“ Watzinger nimmt Maß, rückt vorsichtig bis an die Kante vor – und springt. Er hat jedoch nicht mit der Flinkheit des Feindes gerechnet: Während er noch in der Luft schwebt, trippelt Pawel Gulag Krutnikow mit einigen hastigen Schritten zur Seite. Unser Fräulein flattert, unser Fräulein kreischt. Mit einem lauten, knirschenden Geräusch kracht unser Fräulein auf die Bretter. Krutnikow wartet nicht lange; sogleich ist er wieder zur Stelle, kniet sich ungelenk und ächzend auf den Boden und wälzt sich dann über den reglosen Körper unseres Fräuleins, um es in den Schwitzkasten zu nehmen. Nach schier endlosen Sekunden ohne Gegenwehr ergreift er Watzingers erschlaffte Hand und klatscht damit auf die Parketten: zweimal, dreimal – der Kampf ist zu Ende.

 

Er wäre auch so zu Ende gewesen. Eine Viertelstunde später stellen die vom Polivka geholten Sanitäter den Tod Gustav Watzingers fest. Fraktur des zweiten Halswirbels, so lautet ihre Diagnose.

„Sehen Sie sich gezwungen, mich jetzt festzunehmen?“, fragt Paul Krutitz (der die dritten Zähne unterdessen wieder in den Mund geschoben hat) den Polivka.

„Das wird wohl zu vermeiden sein. Ich wüsste keinen Ort, an dem das Recht auf Notwehr angebrachter wär’ als hier am Heumarkt.“

Krutitz nickt. Er reicht dem Polivka die Hand und wackelt durch den Gastraum des Cafés dem Ausgang zu. Als er die Karamboltische erreicht hat, bleibt er stehen und zündet sich bedächtig eine Zigarette an. Erst dann verlässt er das Lokal.

Er ist ein großes, altes Tier, dieser Genosse Pawel Gulag Krutnikow, und er trägt den unaufhaltsamen Niedergang seiner Spezies mit Gleichmut.

Der Polivka sieht ihm noch lange nach. Und seufzt.

 

zurück zu den Kurzgeschichten

zurück zu den Texten