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Gliederreißen

(aus "Absurdes Glück")

 

Ludwig litt an einer Krankheit, die so selten war, dass niemand außer ihm sie hatte. Die Symptome seines Leidens waren tatsächlich sonderbar: Wenn Ludwig unruhig war, wanderten seine Glieder. Sie bewegten sich nicht langsam fort, wie etwa ein wachsender Milchzahn oder eine Wanderniere. Nein, sie wechselten mit oft unglaublicher Geschwindigkeit ihre Plätze. Wo eben noch Ludwigs Ohr gelauscht hatte, da wuchs mit einem Mal ein Knie aus seiner Schläfe, wo Ludwigs Zunge eine Briefmarke befeuchtet hatte, da ragte plötzlich ein Daumen aus seinem Mund. Es konnte einem leicht passieren, dass man Ludwig die Hand zum Gruße reichte und stattdessen seinen Fuß ergriff. Ludwig, oder das, was gerade von ihm zu sehen war, pflegte dann, stotternd und errötend, um Entschuldigung zu bitten. Seine Körperteile wanderten dabei in atemberaubendem Tempo, denn sie taten es umso rascher, je nervöser Ludwig war. Ludwig war meistens nervös.

Es verstand sich von selbst, dass Ludwig sehr zurückgezogen lebte. Nur einmal nötigte man ihn dazu, am Hochzeitsessen eines Freundes teilzunehmen. Es war ein kurzer Auftritt. Die Gäste wurden eben mit Bouillon gelabt, als eine Kinderstimme durch den Festsaal schallte:

„Mami, was hat der Mann da?“

Alle Blicke waren plötzlich auf Ludwig gerichtet, stumm und entgeistert, dann hub ein Kreischen an, Gläser zerbarsten, kleinen Mädchen wurden die Augen zugehalten, und Ludwig selbst starrte schreckensbleich auf seinen Teller. Was sich da in der Suppe spiegelte, war seine Nase nicht.

Seit jenem denkwürdigen Tag mied Ludwig größere Gesellschaften. Er verbrachte die Zeit mit dem Sammeln von Staubmützen und verließ das Haus nur noch, um, vermummt wie Valentino in der Wüste, die Ärzte der Stadt zu besuchen.

 

 

Bei Hunderten von Ärzten war Ludwig schon gewesen, bei alten und noch älteren, berühmten und noch berühmteren, bei solchen mit langen und solchen mit noch längeren Bärten. Er hatte ihnen seine Leiden geschildert, ein ums andere Mal, und sie hatten sich über ihn gebeugt, stirnrunzelnd und kopfschüttelnd, und keiner, kein einziger hatte Rat gewusst. Nicht nur, dass er gesellschaftlich geächtet war, nun stieß ihn also auch die Fachwelt zurück.

Tief verzweifelt beschloss Ludwig, einen Psychiater zu konsultieren. Natürlich den besten, berühmtesten, ältesten, längstbärtigen Seelendoktor des Landes, nämlich Professor Petöfi, der überdies die dicksten Brillen von allen trug.

„Kommen Sie herein, Herr“, drang des Professors Stimme aus dem dunkel getäfelten Herrenzimmer, „und machen Sie Platz!“

Ludwig trat ein und steuerte, ein wenig irritiert, auf die schwere Ledercouch zu.

„No was! Bin ich Freud? Nix da schlafen! Kommen Sie und setzen Sie auf Fauteuil! Aufrecht sei der Mann!“

Ludwig schlich verschüchtert näher und versank in einem der Sessel vor Professor Petöfis gewaltigem Schreibtisch.

„No brav is er ja! Was fehlt ihm? Oder hat er was zu viel?“

Ludwig schwieg. Sein Körper sprach für sich. Er spürte, wie das Blut durch seine Adern wallte, wie sich die Wangen blähten, um nach und nach den Umriss seines Hinterns anzunehmen. Dann saß er da, das leibhaftige Arschgesicht.

Professor Petöfi stutzte. Er rückte sein enormes Brillengestell zurecht und beugte sich vor.

„Ah, ja, hm, interessant ...“, murmelte er. „Was man hat, hat man. Können wir mehr noch so Tricks, mein Allerwertester?“

Ludwig konnte. Wie von Geisterhand verzaubert, wichen die prallen Backen aus seinem Gesicht. Dafür thronte nun Ludwigs rechte Hand gleich einem Hahnenkamm auf seinem Scheitel.

„Erstaunlich!“, gluckste Professor Petöfi, „Sie entschuldigen, kleines Moment nur!“ Er erhob sich und wackelte eilig zur Tür. Dann war es Ludwig, als höre er einen aufgeregten Wortwechsel, der wiederholt von schallendem Gelächter unterbrochen wurde. Nicht lange allerdings, und der Professor kam zurück.

„So, ist genug für jetzt. Alles wird gut sein, mein Freund. Sie sind für Abendessen eingeladen. Heute. Es kommen Kapazitäten.“

Ludwig war zu verschüchtert, um die Einladung abzulehnen. Er ahnte zwar, dass er den Gästen des Professors zur Erheiterung dienen sollte, als eine Art Hofnarr, dessen burleske Metamorphosen einen Rahmen für die kulinarischen Genüsse des Abends bilden würden. Aber Ludwig ahnte nicht alles.

Folgsam fand er sich zur vereinbarten Stunde vor der Wohnung des Professors ein.

Noch bevor er klingeln konnte, öffnete Professor Petöfi und gab Ludwig ein Zeichen zu schweigen. Dann zog er ihn durch eine kleine Tür in sein Arbeitszimmer.

„Setzen Sie, regen Sie nicht auf, ich muss beichten!“

Der Professor wirkte erregt. Auf seiner Nase glitzerten Schweißtröpfchen.

„Ich habe ein Tochter“, begann er jetzt, „reizendes Kind, Rosa heißt. Aber, no, was soll ich sagen, es hat sich große Not. Immer ist stumm das Kind, immer ist traurig, war schon ein Baby ernstes. Nie ist froh gewesen, nie hat geredet, nie hat gelacht, stellen Sie vor, zwanzig Jahre, bis heute nie! Frau Petöfi fleht schon bei alle Götter in Himmel, sagt immer, Istvan, sagt, Istvan, mach gesund das Kind, ich bin müde schon von Leben, was bist du nur für Doktor, der nicht einmal kann heilen das eigen Blut!“ Der Professor schüttelte den Kopf und rang die Hände.

„Und dann kommen Sie spaziert. Und mir zerreißt fast vor Gelache, was für Theater! Ich mein nicht böse, glauben Sie, es ist sich Segen, großer Segen! Seien Sie mir lieb, setzen Sie, essen Sie, trinken Sie, und zeigen Sie lustige Tricks. Machen Sie lachen mein Kind. Helfen Sie Rosa! Wenn Sie nicht können, wer soll sonst?“ Professor Petöfi verstummte und blickte Ludwig flehend an.

Kurze Zeit später stand Ludwig wieder vor der Wohnungstür, denn diesmal musste er die Klingel drücken. Nach einer Weile öffnete die Frau des Professors und begrüßte ihn herzlich. In ihren verhärmten Augen leuchtete ein Hoffnungsfunke.

Nun lief auch Professor Petöfi hurtig herbei, gerade so, als habe er Ludwig wochenlang nicht gesehen.

„No bitte, is er ja schon da!“, rief er fröhlich. Er nahm Ludwig Hut und Mantel ab und geleitete den Gast zum Speisezimmer.

Sie waren schon da, die Kapazitäten, sieben langbärtige alte Herren saßen um den gedeckten Tisch, und der flackernde Kerzenschein spiegelte sich in ihren hohen Stirnen. Man wies Ludwig einen Platz und hob die portweingefüllten Gläser, während die Dienstmagd die Suppe auftrug.

Bouillon, dachte Ludwig, ausgerechnet Bouillon ...

Er wurde ein wenig unruhig.

„Wo ist euer Kind?“, fragte da eine der Kapazitäten.

„No genau, wo bleibt Rosa?“, rief Professor Petöfi. Dabei schien er Ludwig zuzuzwinkern.

Und dann öffnete sich eine Türe, und Rosa trat ein.

Rosa. Duftender Morgentau. Leuchtende Schneeflocke. Klingender Abendstern. Rosa.

Ludwig war wie vom Blitz getroffen. Nie hatte er Schöneres gesehen. Er vergaß, zu atmen, zu denken, er vergaß sogar, nervös zu sein. Dann saß auch Rosa an der Tafel, Ludwig gegenüber, und ihr schmales Elfenbeingesicht schimmerte, als wäre es durchsichtig.

„Soll nix anbrennen, soll nix kalt werden! Lasst euch schmecken dem Supperl! Wird man sehen, was hat die Köchin für Tricks auf dem Lager!“ Professor Petöfi nickte Ludwig ermunternd zu:

„Nicht wahr, Tricks, Sie verstehen?“

In diesem Augenblick erinnerte sich Ludwig wieder, wo er war. Schwer lasteten plötzlich die Blicke auf ihm, neugierig die der Kapazitäten, bange und erwartungsvoll jene Professor Petöfis und seiner Frau. Ludwig fühlte, wie es in seiner Mitte zu sieden begann, wie es pumpte und kochte in seiner Brust, und dann überrollte ihn ein Anfall von nie da gewesener Wucht.

Von den Ahs und Ohs der Kapazitäten begleitet, glich Ludwig bald schon einem brodelnden Vulkan, seine Haut zerbarst in wildem Chaos, nichts war mehr da, wo es gerade noch gewesen war, Ohren und Nase und Beine und Arme vollführten einen rasenden Tanz, selbst Ludwigs innere Organe tobten ungezügelt durch seinen Körper, und etwas nur blieb ruhig an seinem Platz, das waren Ludwigs Augen. Die ruhten tief in den großen schwarzen Augen Rosas. Und plötzlich vernahm Ludwig eine Stimme, so leise, dass niemand sonst sie hören konnte.

„Sei ganz ruhig“, sagte die Stimme, „und hol das Herz aus deiner Hose, ich kann es sonst nicht öffnen ...“

Rosa hatte keinen Laut von sich gegeben. Ludwig bemerkte erst nach einer Weile, dass er selbst gesprochen hatte, mit Rosas Mund, denn ihre vollen Lippen erblühten nun auf seinem eigenen Gesicht.

Und dann spürte Ludwig, wie ihre pochenden Herzen die Plätze tauschten, und gegenüber, auf Rosas Antlitz, erkannte er die Konturen seines eigenen Mundes.

Und Rosa lächelte.

 

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