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Unterwelt

(aus "1001 Buch" 4/2009)

 

Dunkel, kalt, gefährlich: Das sind wohl die gängigsten Attribute einer vorwiegend urbanen Halbwelt, einer Unterwelt, die ja die meisten braven Bürger nur von der Kinoleinwand kennen. In finsteren Hinterhöfen wird da gedealt und gefixt, gezockt und geraubt, geschändet, gehurt und gemordet, dass es dem Freund des Sinistren eine schaurig-süße Freude ist. Selbst wenn diese Welt einmal nicht kalt und dunkel daherkommt (man denke an die – angeblich – wohlgeheizten Etablissements der Rotlichtviertel), bleibt sie allemal gefährlich: ein Ort der sittlichen Verkommenheit, ein schwarzer Winkel der Gesellschaft. Eine Hölle, nicht im mythologischen, sondern allein im moralischen Sinn.

 

Wir können erkennen: Es geht hier um Wertungen, um ethische Hierarchien, um einen vertikalen Maßstab zwischen dem Erhabenen und dem Vertieften. Was sich der Schwerkraft entzieht, sich über die Erde erhebt, das scheint uns von vornherein edel und gut, ja mit wachsender Höhe noch besser zu sein. Was sich dagegen unten befindet, das halten wir eben für tief, und zwar im Doppelsinn des Wortes. Es ist eine Tiefe, die uns zugleich fasziniert und befremdet, eine Tiefe, derer wir uns, so sehr wir in rein literarischer Hinsicht mit ihr kokettieren, im wirklichen Leben nur zu gern entledigen würden. Diese Ausrottung des Unten ist den Führungseliten der Menschheit seit jeher ein Anliegen, aber es ist ihnen trotz wiederholter Versuche weder mit der so genannten Unterwelt noch mit den (je nach politischer Windrichtung wechselnden) so genannten Untermenschen gelungen. Während sich die kollektive Ächtung immer neue Opfer sucht (womit sie von schon zur Genüge geschundenen ablässt), hat das profane Verbrechen einen brillanten Weg gefunden, sich zu institutionalisieren: Es hat die Poren der Gesellschaft infiltriert, ist still und leise aufgestiegen, hochgestiegen, kurz: Es ist salonfähig geworden.

 

Wir brauchen keine düsteren Seitengassen, keine stinkenden Kanäle und verborgenen Hinterzimmer mehr, um der Unterwelt ins Auge zu sehen. Ja, nicht einmal ein Keller in Amstetten ist dazu vonnöten. Die Schieber und Hehler, die Diebe und Mörder von heute schlagen ihre Mantelkrägen nicht mehr hoch. Sie sitzen in klimatisierten Büros und diktieren, sie gebieten der Welt, wie sie sich zu drehen hat.

 

Und schon dreht sich die Welt in ihrem Sinne.

 

Konzerne, deren Waren die Ärmsten billig produzieren und die Reicheren teuer kaufen. Eine Politik, die von diesen Konzernen dirigiert wird. Eine von dieser Politik verfügte Gesetzgebung. Das ist unsere Unterwelt. Hochangesehene Hochstapler, die Millionen von Menschen ruinieren, nicht minder geachtete Waffenhändler, die Millionen von Menschen um ihr Leben bringen. Honorige Atomlobbyisten, die uns mit weiteren Naturparks à la Tschernobyl erfreuen wollen, distinguierte Geschäftsleute, die Raubbau an einem ganzen Kontinent und dessen Bewohnern betreiben. Ein ehrbarer Staatsmann, der den Krieg ausruft, um Öl für eine Firma zu lukrieren, an der er beteiligt ist, ein reputierlicher Staatsanwalt, der zwei Seeleute einkerkert, weil sie eine Handvoll afrikanischer Flüchtlinge vor dem Ertrinkungstod gerettet haben. All das und noch viel mehr ist unsere Unterwelt.

 

Und weil wir alle – ausnahmslos alle – dieses unheilvolle Getriebe am Laufen erhalten, sind letztlich wir selbst unsere Unterwelt. Wir haben – in Umkehrung schildbürgerlicher Methoden – das Dunkel ins Licht geholt. In ein Licht, das – in Umkehrung physikalischer Gesetzmäßigkeiten – das Dunkel nicht erhellt, sondern von diesem verfinstert wird.

 

So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mensch in seiner Geschichte umso tiefer gesunken ist, je höher er hinaus wollte: Nachdem er zunächst den aufrechten Gang entdeckt hat, ist er flugs darauf verfallen, mehrstöckige Häuser zu errichten, um seinen hehren Idealen und Zielen Ausdruck zu verleihen: Wehrtürme anfangs, dann Kirchen, zu guter Letzt Banken. Um sich über diese Luftschlösser und Wolkenkratzer zu erheben, musste er zudem das Fliegen lernen – ein zeitlich nur leider sehr eingeschränkter Triumph, birgt doch der Aufstieg des Fliegenden bereits den Keim des Abstiegs in sich. Und zwangsläufige Landungen haben per se etwas Beschämendes: Man will nicht hören, dass man sterben muss, wo man doch eben erst geboren wurde.

 

Aber im Himmel wohnt nun einmal nur der Herrgott, das hat irgendwann auch der Mensch erkannt. Seither wird er nicht müde, es der ganzen Welt zu zeigen – nämlich, wo Gott wohnt. Er behandelt die Erde mit angemessener Nichtachtung. Sie dient ihm bestenfalls als Sprungbrett, um sich in höhere Sphären zu katapultieren, als eine Sprosse auf der Karriereleiter (die ja, wie wir dank Johannes Calvin wissen, Transzendenz und Profanität miteinander vereint), anders gesagt: Die Krone der Schöpfung ist dieser Schöpfung zur Dornenkrone geworden.

Auf diese Art ist die greifbare, fruchtbare, sonnendurchflutete Welt sukzessive zur Unterwelt verkommen, zu jenem dunklen, kalten, gefährlichen Ort, vor dem wir uns sicher fühlen, weil wir ihn noch immer auf der Kinoleinwand wähnen.

 

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