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Mauritius: Beinahe ein Paradies
(aus "Die Presse - Schaufenster" vom 10. 1. 2007)
Mauritius war eine halbe Ewigkeit lang ein Naturparadies. Bis der Mensch kam: mit Ausrottung, Raubbau, Sklaverei, Spekulation. Seit der Unabhängigkeit 1968 entwickelt sich die Insel wieder zurück: zum Paradies! Die besten Träume sind meistens die unerfüllten; das gilt nicht zuletzt für den Briefmarkensammler. Kaum einer wird den weltweiten Inbegriff philatelistischer Sehnsucht je in Händen halten: die legendäre blaue Mauritius nämlich. Dass es auch eine orange gibt, wissen sogar jene Binneneuropäer, die an Postwertzeichen mäßig oder gar nicht interessiert sind. Und dass das Land, von dem jene seltenen Marken stammen, irgendwo im Süden liegt, mitten im Meer, wahrscheinlich in der Nähe des verlorenen Paradieses.
Sie irren. Mauritius muss einst selbst das Paradies gewesen sein: Jahraus, jahrein gesegnet mit Wärme und ausreichend Feuchtigkeit, wuchsen dichte, saftige Wälder aus seiner fruchtbaren Vulkanerde, und im Schatten dieser Wälder entwickelte sich eine Fauna, wie es sie nirgendwo anders gab. Tiere, die keiner Reißzähne, keiner tödlichen Krallen und keines Giftes bedurften, weil sie einander keine Feinde waren. Vögel, die nicht mehr fliegen konnten, weil sie keinen Grund mehr dazu hatten: Von nichts und niemandem bedroht, lebten sie ihr zufriedenes Leben in diesem vegetarischen Schlaraffenland. Die
Besiedelung der bislang unbewohnten Insel
nahm erst im 16. Jahrhundert ihren Anfang.
Von da an dauerte es keine 200 Jahre,
bis der Mensch ihre Fauna und Flora
unwiederbringlich zerstört hatte. Das
hervorragende Ebenholz der mauritischen
Urwaldriesen erzielte Höchstpreise auf
dem europäischen Markt – Grund genug
für Der Verwüstung durch die Holländer folgte die Beschlagnahme durch die Franzosen. Ihre Kolonie entwickelte sich in kürzester Zeit zu einer höchst rentablen Einnahmequelle. Bald schon bepflanzten Sklaven aus Afrika und Madagaskar die gerodeten Böden mit Zuckerrohr und mehrten den Umsatz ihrer weißen Herren. Als die Insel schließlich von England annektiert und die Sklaverei offiziell verboten wurde, ging man dazu über, sogenannte Kulis zu importieren – indische Vertragsarbeiter, die von ihren Herren kaum besser behandelt wurden als zuvor die Afrikaner. 95 Prozent der heutigen mauritischen Bevölkerung stammen von diesen einstigen Sklaven und Kulis ab. Ein einzigartiges Naturjuwel war so zum Tummelplatz der Spekulanten und Menschenhändler verkommen; dass sich aus den Trümmern der Insel, die erst im Jahr 1968 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, eine der wenigen stabilen Demokratien Afrikas entwickelt hat, grenzt an ein Wunder. Umso mehr, als sich an den Besitzverhältnissen seit damals kaum etwas geändert hat: Den Nachfahren der Kolonialisten, die nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung stellen, gehört nach wie vor der Großteil der Insel. Selektive Wahrheiten. Viel ist über das heutige Mauritius geschrieben worden, und die meisten der Berichte gleichen einander: Euphorisch werden die unvergleichlichen Strände gelobt, die azurnen, korallenbewehrten Buchten, die Freundlichkeit der Bewohner, vor allem aber der Umstand, dass hier weit über eine Million Menschen verschiedenster Ethnien und Konfessionen in Frieden und Harmonie zusammenlebt, um gemeinsam am stetigen Aufschwung des Landes zu arbeiten. Es
liegt nahe, dass die selektive Wahrheit
der Reiseveranstalter nicht immer der
Realität entspricht. Wer sich also hinter
den Mauern der Hotelpaläste verschanzt,
um ein Leben wie Gott in Frankreich zu
führen – was jener selektiven Wahrheit
ziemlich nahekommt –, dem werden auch
die Alltagsprobleme des Landes verborgen
bleiben: latente Spannungen zwischen den
Volksgruppen, ihren Religionen und
Kulturen, enorme soziale Unterschiede,
wachsender Alkoholismus und tägliche
Verkehrsinfarkte in den Wohngebieten
rücken Mauritius immer näher an den
wirtschaftsliberalen Westen heran.
Alles da, außer Wüsten. So vielfältig, bunt und facettenreich wie ihre Bewohner präsentiert sich nämlich auch die Insel selbst, sobald man die grausam zersiedelten Zonen verlässt und in ihr Inneres vordringt. Nahezu jede Landschaftsform der nichtpolaren Zonen kann man hier finden, außer der Wüste: Trockenheit ist eines der wenigen Dinge, die man in Mauritius vergeblich sucht. Vom Südwesten her führen dichte, in allen erdenklichen Grüntönen schillernde Wälder zum zentralen Hochland hin; unweit der südlichen, wild zerklüfteten Steilküste wölben sich saftige Wiesen, gesäumt von dampfenden Dschungelkulissen. Atemberaubende, schwindelerregende Schluchten, in denen wilde Affenhorden ihre Turnübungen machen, wechseln sich in den Bergregionen mit alpinem Mischwald ab. Hier oben, in rund 700 Metern Höhe, liegt auch das Grand Bassin, der bedeutsamste, wenn auch bei weitem nicht größte See der Insel: Er ist das einzige der dreizehn heiligen Gewässer des Hinduismus, das sich außerhalb Indiens befindet. Alljährlich zwischen Februar und März machen sich etwa dreihunderttausend mauritische Hindus zu Fuß auf den Weg, um hier das Maha-Shivaratri-Fest zu feiern. Mutter
Natur mag sich zügeln und gerade noch im
Zaum halten lassen, vollkommen zähmen
lässt sie sich – jedenfalls auf
Mauritius – nicht. Dabei ist ihre
scheinbare Auflehnung nur ein Anlauf, den
sie nimmt, um täglich aufs Neue ihr
unerschöpfliches Füllhorn über den
Menschen auszuschütten: Der Reichtum an
Obst- und Gemüsesorten, die hier
gedeihen, ist schier unüberbietbar.
Mangobäume säumen die Straßen und
Gassen, werfen regelmäßig ihre schweren,
fleischigen Früchte ab; man braucht sie
nur noch aufklauben. Im brodelnden
Marktgewühl der Hauptstadt Port Louis
finden sich neben Bananen und Ananas,
Jackfruits und Papayas auch Karambolen und
Bilimbis, Manjok- und Juccawurzeln,
Litschis, Taros, Okras und natürlich
Chilis in allen Farben, Formen und
Schärfegraden.
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