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Auswärtsspiele auf unbespielbarem Rasen

(aus "1001 Buch" 1/2002)

 

Über die Mühen und Freuden von (Kinder-)Lesereisen

 

Ich war ein schweigsamer Bub. Schüchtern und zurückgezogen. Ich dachte viel zu verstehen, und ich glaubte noch mehr zu erahnen, doch ich fürchtete, niemand würde mir zuhören. Und also beschloss ich, Schriftsteller zu werden. Später saß ich an meinem Schreibtisch, Tage, Wochen und Jahre lang, und schrieb und zeichnete mich selbst auf schweres Papier - eine stille Art, zu reden in der Hoffnung auf ebenso stille Beachtung. Als ich dann eines Tages verlegt wurde, konnte ich mich fast nicht wieder finden - vor Glück. Ich dachte: Jetzt hast du’s geschafft. Hast die Berufung zum Beruf, dein stilles Kämmerchen zum Schwungrad der Welt, zum Zentrum des Erdenkreises gemacht. Hast deinen Platz gefunden. Und Geld wirst du außerdem haben. Die Marie wird sich feist auf dein Konto legen, und gut wirst du leben können, ohne jemals den Mund öffnen, ohne dich je konfrontieren zu müssen.

Ja, ja ... Nein, nein ...

 

Bastelwerkstatt im Trauungssaal?

Ein Sonntag im Dezember. Sieben Uhr früh, siebzehn unter Null. Noch rasch geduscht, während der Kaffee durchläuft, eine halbe Stunde später den fünfzehn-Kilo-Rucksack geschultert, vollgestopft mit Büchern, Mappen und Diamagazinen, und ab zur Straßenbahn, zum Westbahnhof. Der Zug fährt kurz nach neun; wenig später werde ich in P. umsteigen, um gegen eins mein Ziel im südlichen Bergland Österreichs zu erreichen, das Städtchen M., jenen Klassiker unter den christlichen Wallfahrtsorten, und ich: ein Messias, das Gepäck voll der erleuchtenden Schriften.

Die Lesung ist um vier Uhr nachmittags angesetzt; ich werde also drei Stunden auf meinen Auftritt warten müssen. Es hätte keinen Sinn, einen späteren Zug zu nehmen, kommt doch der nächste erst um sechs Minuten nach vier an. Das Schneetreiben wird dichter, die Spurweiten enger, die Zugmaschinen träger, die Waggons kleiner und zunehmend besser durchlüftet. Immer kürzer werden die zurückgelegten Etappen auf der mittlerweile eingleisigen Strecke – wem Gott hier eine Hütte gab, dem schenkte er auch eine Bahnstation. So dringe ich vor in unbekanntes Land. Weihnachtsland.

Zwölf Uhr fünfzehn. Eine Stunde Aufenthalt. Wir warten auf den verspäteten Gegenzug, bedeutet mir der Schaffner gestenreich, aber das nächste Wirtshaus sei eine halbe Stunde entfernt, bei diesem Wetter ... Ich spiele mit den Eisblumen an der Innenseite des Fensters.

Dreizehn Uhr dreißig. Fröhliches Pfeifen der Lok. Ein Ruck. Wir fahren noch etwa fünfhundert Meter, dann stoppt der Zug endgültig. Schluss, Aus, Strecke blockiert, ein liegen gebliebener Schlitten vielleicht, oder auch eine schlichte Schneewehe auf den Geleisen. Per Bus geht es weiter nach M.

Gegen halb drei stapfe ich auf den tief verschneiten Hauptplatz - und traue Augen und Ohren nicht. Ein rührender, ein unvergleichlicher Empfang, den mir die Stadtväter hier bereitet haben, mit Blasmusik und Rednerpult und allem, was dazu gehört. Erst später erfahre ich, dass es sich um einen Festakt anlässlich des 95-jährigen Bestehens der Bergbahnstrecke gehandelt hat. Wie auch immer, es scheint an der Zeit zu sein, auf mich aufmerksam zu machen. Nach einigen Telefonaten erscheint ein nervöser junger Mann und läuft mir voraus zum Gemeindeamt. Seltsam, denke ich im Foyer, nirgends ist ein Hinweis auf die kommende Lesung zu entdecken, nur ein großes Schild neben dem Stiegenaufgang: „Bastelwerkstatt“. „Ach ja,“ meint der junge Mann im Laufschritt, „das ist noch von gestern ...“

Sechzehn Uhr, vor dem Trauungssaal. Der Nervöse hat noch rasch einen Diaprojektor aufgestellt und ist dann Richtung Hauptplatz entflattert, weil er außer mir auch noch den Bürgermeister und den Punschstand zu betreuen hat. Die Bühne ruft. Ich folge frohen Herzens, trete ein und auf.

Ganz ehrlich, ich habe mein Bestes gegeben. Habe die Zuhörer in den Saal gewiesen, habe mich selbst angekündigt und vorgestellt, habe lächelnd Geschichten erzählt und Gedichte vorgelesen, Bilder gezeigt und mit dem Publikum parliert – ein kleines, gediegenes Publikum, nebenbei. 5 (in Worten: fünf) Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren haben mir zugehört und sich mit artigem Applaus bedankt.

Beinahe unnötig, zu erwähnen, dass während meiner abendlichen Schlitterpartie zur Bushaltestelle in ganz M. der Strom ausfiel (es mag ja an der Kochplatte des Punschstandels gelegen haben), dass dann die Lokomotive der Schmalspurbahn endgültig ihren Geist aufgab und dass uns der Busfahrer schließlich drei Stunden bis zum nächsten Anschlusszug kutschierte. Und das war nett von ihm.

Ankunft in Wien: Kurz vor zweiundzwanzig Uhr.

 

Beruf: Wandelnde Reiselektüre

Andere Menschen haben einen ordentlichen Beruf. Sie sind Tischler und leben von ihren Tischen. Sie sind Schuster und leben von ihren Absätzen. Sie sind Spediteure und leben von ihren Lastern. Das ist gerade und bodenständig. Einfach ehrlich ... Wir Buchmacher können das selten von uns behaupten: Wir schreiben nicht, um zu leben. Wir leben, um zu schreiben. Wir leben nicht, um zu lesen. Aber wir lesen meistens, um zu leben.

Ich habe es in diversen Vororten von Hannover getan. Oder irgendwo im Gaza-Streifen. In Frankfurt, Warschau, Betlehem. Ich tat es in den Bergen Südtirols, im steirischen Murtal und an anderen Orten. Manchmal war es acht Uhr morgens, wenn ich es tat, dann wieder vier Uhr nachmittags oder zehn Uhr abends. Einmal tat ich es mit fünf Kindern, ein anderes Mal mit dreihundert. Dann wieder mit hundertfünfzig Erwachsenen. Und ich machte es bis zu fünf Mal täglich. Es tun, das heißt: In krasser Unterzahl und auf unbespielbarem Rasen Auswärtsspiele bestreiten. Es tun, das heißt: den Mund aufmachen, sich konfrontieren, und zwar ohne jeden Heimvorteil. Lesereisen zählen bisweilen zum Scheußlichsten und weit öfter zum Wundervollsten, das ein Autorenleben zu bieten hat. Ja. Ehrlich. Zum Wundervollsten.

Man nehme ein anderes Städtchen M., das im Baden-Württembergischen Landkreis Rems-Murr liegt. Zwei ältere Damen (Schwestern nebenbei) betreiben hier einen Buchladen, in den sie all ihre Energie und Liebe stecken. Wenn ich bei ihnen zu Gast sein darf (und das ist beinahe jedes Jahr der Fall), dann fühle ich mich mehr als respektiert. Die Welle an Sympathie, die mir schon im Vorfeld der Lesung entgegenschlägt, lockert und öffnet mich für die Auseinandersetzung mit Text und Mensch. Das Publikum ist geladen, Sitzreihen und Lampe aufgestellt, sogar ein Buffet haben die beiden Schwestern vorbereitet. Entsprechend zahlreich erscheinen die Zuhörer. Der Abend kann nur gelingen, der Funke kann nur überspringen. Und er tut es. Immer wieder, bis tief in die Nacht ...

Oder Helga P., legendäre Buchhändlerin aus G. in der Steiermark. Ein Engagement bei ihr gleicht der Erhebung in den Adelsstand, und doch ist sie immer noch ein Stück engagierter als man selbst. Eine Woche lang chauffiert sie ihre Schriftsteller von Auftritt zu Auftritt, von Schule zu Schule, nährt zwischendurch ihre Leiber und Seelen mit Knödeln und Witz und achtet zugleich strengstens darauf, dass den zarten Autorengemütern kein Leid geschieht: Wo bei unserer Ankunft die Bühne nicht wunschgemäß steht, wo das Publikum nicht wunschgemäß sitzt, da gibt es auch keine Lesung. Helga P. hat die Macht, das zu entscheiden, schließlich bezahlt sie diese literarischen Ochsentouren auch noch aus eigener Tasche.

 

Es gibt viele Erlebnisse dieser Art. Die anderen, die demütigenden, von Achtlosigkeit und Indolenz geprägten bleiben da zum Glück in der Unterzahl. Schriftsteller sind naturgemäß verletzliche Leute. Sie exponieren sich nicht, um ihren Selbstwert auf der Strecke zu lassen, um als Pausenfüller oder Budgetabschreibeposten herzuhalten. Lesereisen muss stolz machen. Man wirft sich in die Kluft (ich habe eine eigene Arbeitshose) und in den Zug (Flugzeug macht noch stolzer) und trägt sein Wort hinaus in die Welt. Mein Anspruch, es besonders gut zu machen, das Publikum mitzureißen, ist dabei nie kleiner geworden. Es macht mich unglücklich, die Heimreise mit dem schalen Gefühl anzutreten, nichts zurückgelassen und wenig mitgenommen zu haben. Das verdiente Geld steht da an zweiter, dritter, fünfter Stelle. Was ich bei erfolgreichen Lesungen gewinne, ist weit mehr wert: Geballter Sozialkontakt nach langen, autistischen Zeiten am Schreibtisch, Lachen und Staunen, Diskussion und ernsthafte Auseinandersetzung mit meiner Arbeit. Das motiviert. Das macht Mut und gibt Kraft für die Rückkehr zum leeren Blatt Papier.

Der Gegensatz zwischen einsamer Denk- und Schreibarbeit und offener, ja gezwungenermaßen extrovertierter Bühnentätigkeit könnte größer nicht sein. Eines aber bleibt der Autor hier wie da: Auf sich alleine gestellt. Dass das nicht immer leicht ist, mag das folgende Gedicht illustrieren. Es ist vor vielen Jahren auf meiner allerersten Tournee durch Deutschland entstanden.

 

Ausgespuckt

in diese Niemandsstadt.

Müde Schritte

auf fremdem Beton.

Ein Doppelzimmer

haben sie mir gegeben.

Nutzlose Quadratmeter,

Hauptsache Kabel - TV.

Ja, die europäische Gastlichkeit ...

Blaß und trocken

zwei Schokoladeherzen

unter dem Nachtlicht.

Kein Telefon.

Abgenabelt von da,

wo die Nacht anders schwarz ist,

verschwunden, vergessen,

irgendwo im Ruhrpott

heulend versackt

in einem Bett

wie ein Fußballfeld.

 

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